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Nach Goodwill-Tour in der EU Konnten Sie bei der EU für gute Stimmung sorgen, Herr Cassis?

Aussenminister Ignazio Cassis hat in den letzten Wochen verschiedene Amtskollegen von Nachbarstaaten getroffen, um nach dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen mit der EU für Unterstützung für die Schweiz zu weibeln. Im Interview sagt er, was er zu erreichen versuchte, und erklärt, wie es mit den Beziehungen zur EU weitergehen könnte.

Ignazio Cassis

Bundesrat

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Ignazio Cassis ist seit 2017 Bundesrat und Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Er wurde 1961 geboren, studierte Humanmedizin, promovierte an der Universität Lausanne und machte einen Master in Public Health. Von 1997 bis 2008 war er Kantonsarzt des Tessins. Cassis war dann während zweier Jahre Präsident der Bundeshausfraktion der Liberalen (FDP), der er seit seiner Wahl in den Nationalrat im Juni 2007 angehört. Von 2015 bis 2017 hatte er das Präsidium der Nationalratskommission für soziale Sicherheit und Gesundheit inne. Cassis war im Jahr 2022 Bundespräsident.

SRF News: Herr Bundesrat, kennen Sie den Ausdruck Klinkenputzen?

Ignazio Cassis: Nein.

Das bedeutet, dass man von Tür zu Tür geht und um Unterstützung wirbt. Ist es das, was Sie in den letzten Tagen und Wochen in unseren Nachbarstaaten gemacht haben?

Das, was ich gemacht habe, ist Verständnis zu schaffen für den Entscheid der Schweiz. Damit es nicht falsch verstanden wird. Man hört immer wieder Brexit der Schweiz. Darum geht es nicht. Der Bundesrat hat sich klar bekannt zur Weiterführung des bilateralen Wegs.

Bundeskanzler Sebastian Kurz hat gesagt, er sei bereit, der Schweiz zu helfen. Gab es gestern in Berlin, als Sie Ihre italienischen und deutschen Amtskollegen trafen, ähnlich ermutigende Signale?

Ich merke, dass die EU-Mitglieder auch nicht genau wissen, was die EU-Kommission gemacht hat. Und jetzt ist also ein Dialog zustande gekommen zwischen den Mitgliedern und der Kommission, um auch auf ihrer Seite besser zu verstehen, wie man dazu gekommen ist, die Verhandlungen zu beenden.

Die Erklärung hat nichts damit zu tun, gute Stimmung zu verbreiten. Es geht darum, die Realität darzulegen.

Man hat den Eindruck, der Bundesrat ist daran, in der Europäischen Union für gute Stimmung zu sorgen. In der Hoffnung, dass sich die Dinge schon wieder normalisieren.

Nein, die Erklärung hat nichts damit zu tun, gute Stimmung zu verbreiten. Es geht darum, die Realität darzulegen. Es geht um diese hunderttausenden Menschen, die um die Grenzen leben. Und es geht darum zu realisieren, dass die kleine Schweiz der zweitgrösste Investor in der Europäischen Union ist.

Der EU-Botschafter in der Schweiz hat Anfang Woche gesagt, die Schweiz möchte einfach, dass alles so bleibt, wie es ist. Aber das sei für die EU keine Option. Was sagen Sie dazu?

Der heutige Zustand ist das Resultat von mehreren Entscheiden von beiden Parteien. Es war im Interesse der Schweiz und der Europäischen Union, den heutigen Zustand zu haben. Inzwischen hat sich die Interessenlage in der Europäischen Union geändert. Und wir sind bereit, über diese neuen Interessen zu diskutieren. Der Weg, der jetzt da gesucht wurde, hat der Bundesrat nicht für den richtigen befunden.

Die Respektierung der bestehenden Abkommen ist eine Verpflichtung, nicht eine Hoffnung.

Aber die Frage ist: Was passiert jetzt? Sie haben die Hoffnung geäussert, dass die bestehenden bilateralen Abkommen sogenannt aktualisiert werden. Was macht Sie da so optimistisch?

Die Auslegung und die Respektierung der bestehenden Abkommen ist eine Verpflichtung, das ist nicht eine Hoffnung. Das sind völkerrechtliche Verpflichtungen. Die Aktualisierung könnte bei gewissen Abkommen eine Möglichkeit sein. Aber es stimmt, dazu sind sie nicht verpflichtet. Die Europäische Union, das muss man auch sagen, hat sich zur Respektierung der heutigen Verträge bekannt. Das ist nicht das Problem, das Problem ist, wie gehen wir in die Zukunft?

Lassen Sie mich nochmal den EU-Botschafter zitieren. Er sagt, die aktuelle Beziehung sei unfair. Es brauche eine Änderung. Wird es aus Ihrer Sicht gehen, ohne ein neues Rahmenabkommen in Angriff zu nehmen?

Ich würde es nicht so nennen. Aber wir bleiben im Kontakt, auch mit der Offenheit, über die Probleme zu reden, die von der anderen Seite heute gesehen werden. Wir wollen pragmatische Lösungen suchen, überall dort, wo Probleme gesehen werden. Wenn wir zurückschauen, 20 Jahre Beziehungen: Haben wir viele Probleme, die offen bleiben? Nein, nicht viele. Wir sind bereit, über diese einzelnen Probleme zu reden. Ein institutionelles Abkommen, wie wir es abzuschliessen versuchten, hat sich aber nicht als die richtige Lösung gezeigt.

Also man wird nicht nochmal von vorne anfangen?

Auf jeden Fall nicht kurz- und mittelfristig.

Das Gespräch führte Gion-Duri Vincenz.

Tagesschau, 24.06.2021, 18.00 Uhr ; 

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