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Nach Pandemiejahren Deshalb gibt es in der Schweiz aktuell keine Übersterblichkeit

Nach einer sehr hohen Übersterblichkeit 2022 wird seit Jahresbeginn gar keine mehr verzeichnet. Was hat sich geändert?

Darum geht es: In den ersten Pandemiejahren sind deutlich mehr Menschen verstorben, als zu erwarten war. Weltweit wurde eine höhere Übersterblichkeit verzeichnet – teils fast dreimal so hoch. Das belegt eine Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO . Ein Blick auf die Zahlen in der Schweiz zeigt allerdings: Nach einer bedeutenden Übersterblichkeit im vergangenen Jahr gibt es seit Anfang 2023 keine Übersterblichkeit mehr. Die statistische Erwartung der Sterblichkeit entspricht der Anzahl Todesfälle.

Weshalb kam es 2022 zu so vielen unerwarteten Todesfällen? Im vergangenen Jahr sind 10 Prozent respektive etwa 6650 Menschen mehr verstorben, als das Bundesamt für Statistik (BFS) erwartet hatte . Die Übersterblichkeit war aussergewöhnlich hoch. Es war eine der höchsten sei 1877. Das BFS schreibt: «Die Gründe sind bisher unbekannt.» Die genaue Analyse werde Ende 2023 vorliegen.

Hohe Auslastung in Spitälern erhöht Sterberisiko

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Eine Pflegeperson hält die Hand einer Patientin.
Legende: Imago/Photo2000

Bei hoher Auslastung der Spitalbetten nimmt die Sterblichkeit laut einer neuen Studie pro Tag um zwei Prozent zu – teilweise deutlich bevor die volle Bettenkapazität erreicht ist. Besonders betroffen sind kleine Spitäler.

Für die Studie von Forschenden der Universität Basel wurden die Daten von knapp 1.2 Millionen Patientinnen und Patienten aus 102 Schweizer Spitälern ausgewertet. Dies mit dem Ziel, den Zusammenhang zwischen der Bettenauslastung und der 14-Tage-Sterblichkeitsrate in Spitälern zu untersuchen.

Kritisch wurde es demnach, wenn ein gewisser Schwellenwert an belegten Betten erreicht wurde. Wo diese Schwelle lag, war von Spital zu Spital verschieden. Bei den untersuchten Spitälern lag dieser Schwellenwert zwischen 42.1 Prozent und 95.9 Prozent.

Christian Müller, Chef-Kardiologe am Universitätsspital Basel, geht davon aus, «dass die indirekten Coronafolgen den grössten Anteil an der Übersterblichkeit haben, also zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die nach einer Infektion häufiger auftreten». Auffallend für das Jahr 2022, verglichen zu den Vorjahren, war seiner Meinung nach die viel höhere Anzahl infizierter Personen. «Damit wurde möglicherweise der kumulative Schaden auf Bevölkerungsebene noch grösser, auch wenn viele einen relativ milden Verlauf hatten.» Laut Müller darf man im Kontext der hohen Übersterblichkeit aber auch «die psychologische Belastung aufgrund von Einschränkungen und Schutzmassnahmen nicht unterschätzen.»

So weist das BFS zudem darauf hin : Die zeitliche Parallelität von Corona-Wellen und Übersterblichkeit müsse «nicht bedeuten, dass Covid immer die unmittelbare Ursache der Übersterblichkeit ist». So gab es 2022 beispielsweise mehr Tote im Sommer, als es sehr heiss war. Die hohe Übersterblichkeit dürfte, zumindest unter den Älteren mit Vorerkrankungen, auch mit dem Hitzesommer zusammenhängen. Wissenschaftlich belegt ist das aber noch nicht.

EDU will Aufklärung möglicher Auswirkungen von Impfstoffen

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Mit den offiziellen Erklärungen zur Übersterblichkeit will sich die Eidgenössische Demokratische Union (EDU) nicht zufriedengeben. Sie hat im vergangenen Jahr eine Petition lanciert, die gemäss der Partei bereits 12'000 Leute unterschrieben haben. Die Forderung: Eine ausserparlamentarische Kommission von Fachleuten soll der Übersterblichkeit auf den Grund gehen.

Der Berner EDU-Nationalrat Andreas Gafner hat zudem eine Motion mit dieser Forderung im Parlament eingereicht. «Ich denke, es ist für viele geimpfte Personen wichtig zu wissen, ob es einen Zusammenhang mit der Impfung gibt», sagt Gafner.

Das BFS geht nicht von einem grösseren Zusammenhang zwischen der Übersterblichkeit und der Verabreichung von Covid-19-Impfstoffen aus: «In der provisorischen Todesursachen-Statistik für die Monate Januar bis Dezember 2021 werden 18 Todesfälle mit einer ‹unerwünschten Nebenwirkung bei der Anwendung von Covid-19-Impfstoffen› als Haupttodesursache ausgewiesen. Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass die Häufigkeit dieser Todesursache im Jahr 2022 zugenommen hat.»

Wie könnte Long Covid mit den Todesfällen zusammenhängen? Bei vielen dominiert das Bild der Infektion, die vollständig ausheilt. Doch wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen zunehmend ein anderes Bild: Nach einer Studie über Folgen einer Corona-Infektion des Mediziners Al-Aly Ziyad vom Public Health Institute an der Washington University in St. Louis erleiden vier Prozent der Infizierten innerhalb des ersten Jahres nach der Infektion einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall, eine schwere Thrombose oder eine andere schwere Komplikation. Betroffen seien allesamt Personen gewesen, die ohne Corona-Infektion keine solche Herzerkrankung entwickelt hätten.

Erläuterung zu sprunghafter Veränderung Anfang 2023

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Bei der Analyse einer Übersterblichkeit werden alle Verstorbenen eines gewissen Zeitraumes gezählt – egal, woran sie gestorben sind – und mit dem Durchschnitt der vergangenen Jahre verglichen. Sterben zum Beispiel während einer Woche deutlich mehr Menschen als in denselben Wochen in den Jahren zuvor, spricht man von Übersterblichkeit. In den Jahren 2020, 2021 und 2022 wurde während jeder Corona-Infektionswelle eine deutliche Übersterblichkeit festgestellt. Zudem gab es im Sommer 2022 ebenfalls eine deutliche Übersterblichkeit.

Die Gesamtzahl der für das Jahr 2023 statistisch erwarteten Todesfälle liegt im auf der Bevölkerungszunahme und -alterung basierenden Trend über die vergangenen zehn Jahre. Im Unterschied zu einer retrospektiven Modellierung, bei der alle Daten bereits vorliegen, wird bei der prospektiven Vorhersage des BFS zum Jahresanfang die Sterblichkeit für das ganze Jahr vorhergesagt. Aus diesem Grund sind bei den Jahresprognosen die Übergänge zwischen den Jahren nicht fliessend.

Warum gibt es seit 2023 plötzlich keine Übersterblichkeit mehr? Die Überwachung der Übersterblichkeit sei «verwässert» oder «Rechnen Schweizer Behörden die Übersterblichkeit klein?»: Vorwürfe, die verschiedene Medien seit Anfang Jahr ins Feld führen. Doch: Es gebe nicht «die» Übersterblichkeit als rein empirisches Phänomen, so das BFS. Die Berechnung sei abhängig von der Art der Modellierung der erwarteten Sterblichkeit, also den Erwartungswerten. «Unsere Berechnung der für 2023 erwarteten Sterblichkeit liegt höher als im Vorjahr, reflektiert aber den Trend der vergangenen zehn Jahre.» An der Berechnungsmethode habe sich nichts verändert.

Erklärung zu angepassten Erwartungswerten

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Da die Anzahl der beobachteten Todesfälle im Jahr 2020 ausserordentlich hoch war, wurde für die Berechnung der Erwartungswerte für das Jahr 2021 weiterhin die statistisch erwartete Zahl der Todesfälle für das Jahr 2020 verwendet – und zwar sowohl für die Altersgruppe der 65-Jährigen und älter als auch für die Altersgruppe der 0- bis 64-Jährigen. Für die Berechnung der Erwartungswerte für das Jahr 2022 hingegen wurden für die Altersgruppe der 65-Jährigen und älter einzig die drei Zeiträume mit Übersterblichkeit in den Jahren 2020 und 2021 durch den jeweiligen statistisch erwarteten Wert für das Jahr 2020 ersetzt. Von den übrigen Zeiträumen in den Jahren 2020 und 2021 flossen die beobachteten Todesfälle in die Berechnung des Erwartungswertes für das Jahr 2022 ein.

Die Übersterblichkeit im Jahr 2022 konnte bisher keiner eindeutigen Todesursache zugeordnet werden. Deshalb wurden für die Berechnung der Erwartungswerte für das Jahr 2023 in der Altersgruppe der 65-Jährigen und älter die drei Zeiträume mit Übersterblichkeit in den Jahren 2020 und 2021 wiederum durch den jeweiligen statistisch erwarteten Wert für das Jahr 2020 ersetzt, das Jahr 2022 aber wurde vollumfänglich mit der beobachteten Anzahl Todesfälle berücksichtigt. Für die Altersgruppe der 0- bis 64-Jährigen wurden aus allen drei Jahren 2020, 2021 und 2022 die beobachteten Todesfälle für die Berechnung der Erwartungswerte für das Jahr 2023 verwendet.

SRF 4 News, 10.02.2023, 12:30 Uhr

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