Ein Dutzend Menschen sitzen im Kreis und trommeln. Es ist kühl an diesem Augustmorgen am Neuenburgersee. Darum sind die Trommlerinnen und Trommler auf dem Naturistengelände noch bekleidet.
Beim Ufer steigt gerade Claudia (man ist hier per du) aus dem flachen Wasser. Ohne Kleidung. «Für diese Jahreszeit ist es frisch», sagt die grauhaarige Frau, «aber das Bad ist ein wunderbares Morgenritual.»
Grösstes Naturistengelände der Schweiz
«Die Neue Zeit» in Thielle ist das grösste und älteste Naturistengelände der Schweiz. «Es ist ein Paradies», sagt Claudia. Sie besitzt hier einen Wohnwagen. Die Menschen hier seien ehrlicher und offener, Statussymbole würden wegfallen.
Anfangs habe sie es seltsam gefunden, all die nackten Leute auf dem Gelände: «Dick und dünn, alt und jung, will man das wirklich alles in Bewegung sehen?» Doch bereits nach zwei Stunden sei es ihr nicht mehr aufgefallen. Und ohne Kleider sind alle gleich.
Mehr als nur Nacktheit
Lia, die im Bistro vegetarisch kocht, erklärt den umfassenden Ansatz von Thielle: «Naturismus ist ein Lifestyle. Es geht um gesunde Ernährung, sportliche Aktivitäten, um die Gemeinschaft. Fleisch, Alkohol und Nikotin sind tabu. Auch Sexualität sei hier nicht sichtbar, so Lia.
Die Naturistenszene versucht sich bewusst gegenüber FKK-Stränden abzugrenzen – die manchmal auch als Orte für Sextreffen gelten. Freikörperkultur und Naturismus besitzen dieselben Wurzeln, doch ab den 1970er-Jahren haben gewisse Kreise FKK mit «freier Liebe» gleichgesetzt. Darum gehe es in Thielle nicht, betont Lia.
Die 29-jährige Lia ist eine von wenigen jüngeren Personen an diesem Augustmorgen. Ist das Paradies etwa überaltert? «Kann man so sehen. Aber in der Hauptsaison sind auch viele junge Menschen hier. Natürlich hat es in der Nebensaison mehr Pensionierte.»
Lia ist erstmals mit zwölf Jahren zusammen mit ihrer Mutter nach Thielle gekommen und hat sich hier sofort wohlgefühlt. Viele Familien kommen seit Generationen hierher.
Naturisten mit Nachwuchssorgen?
Das Gelände, das Platz für über 1000 Personen bietet, verzeichne keine Nachwuchsprobleme, erklärt Betriebsleiter Felix Wild. «Gesund zu leben und einen kleinen ökologischen Fussabdruck zu hinterlassen, ist heute wieder aktueller denn je.»
Auch die Schweizer Naturisten Union meldet konstante Mitgliederzahlen. Rund 6000 Personen sind bei Vereinen registriert. Im Jahr 2003 seien es aber noch 10'000 Naturistinnen und Naturisten gewesen, schreibt das «Historische Lexikon der Schweiz». Die Faktenlage ist nicht eindeutig.
Gemeinschaftsleben und Kultur
Wichtig in Thielle ist für viele Besuchende die Gemeinschaft. Leiter Felix Wild nennt als Beispiel die Tanzaufführung am Ende der Sommerferien: «Das ist ein Gemeinschaftswerk, an dem alle Freude haben über alle Altersgruppen hinweg. Das schweisst zusammen, und dann freut man sich auch wieder aufs nächste Jahr.»
In einem Wäldchen spielt die 65-jährige Elisa mit zwei Männern Alphorn. Kultur und Musik seien hier sehr wichtig, erklärt Elisa. Natürlich gebe es auch manchmal Konflikte – «es gibt hier Bünzlis und Freaks» –, doch die trage man aus.
Elisa lacht: «Ich glaube, man ist etwas ehrlicher, wenn man nackt ist, als wenn man sich verstecken kann.»