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Neue Corona-Massnahmen Unliebsame Überraschungen sind nicht ausgeschlossen

«Wir haben immer gewusst, dass der Winter 20/21 schwierig wird», sagte Bundesrat Alain Berset vor den Medien. Trotzdem wurde die Landesregierung nicht zum ersten Mal in dieser Pandemie von der aktuellen Entwicklung überrascht. Auch nach fast einem Jahr Pandemie-Erfahrung arbeitet das Bundesamt für Gesundheit noch immer nicht mit Szenarien und Modellen, mit denen sich die Regierung auf mögliche Entwicklungen vorbereiten könnte.

Nicht mit zweiter Welle gerechnet

Nach der heftigen ersten Welle im Frühjahr folgte ein sorgenfreier Sommer, mit bald wieder steigenden Zahlen. Flach zwar, aber jede Woche ein bisschen steiler. Die zweite Welle war längst im Anrollen, als man sich in Bern noch vormachte, das Wachstum sei entgegen aller Gesetze der Mathematik nicht exponentiell, sondern linear. Szenarien für den Herbst? Fehlanzeige.

Doch die Zahlen stiegen immer schneller. Am 18. Oktober traf sich der Bundesrat zur sonntäglichen Krisensitzung. Die Schweiz beschloss, was in den Nachbarländern längst selbstverständlich war: Versammlungsverbot, Maskenpflicht, Homeoffice-Empfehlung. Ein erstes Mal hatte man in Bundesbern die Lage falsch eingeschätzt und handelte im letzten Moment.

Zu früh aufgeatmet

Die Massnahmen vom Oktober wirkten. Anfang November ging das steile Wachstum in ein ebenso steiles Absinken über. Erleichterung. Doch wieder wähnte man sich in falscher Sicherheit. Es sehe jetzt sehr gut aus für die Schweiz. Selbst die Experten waren optimistisch. Ziel sei, dass die Zahlen weiter in diesem Tempo sänken. Eine Halbierung alle zwei Wochen. Noch 1000 Ansteckungen bis Weihnachten. Ein Szenario zwar. Aber nicht das einzig mögliche, wie wir heute wissen.

Mitte November wurde die sinkende Kurve flacher, dann drehte sie. Seit Anfang Dezember nehmen die täglichen Neuansteckungen wieder zu. Die Massnahmen vor allem der Deutschschweizer Kantone waren offensichtlich ungenügend. Ein Szenario für diese Entwicklung gab es nicht.

Mit Szenarien arbeiten

Hektik und Chaos brachen aus, als der Bundesrat zur Überzeugung gelangte, dass er das Heft wieder in die Hand nehmen müsse. Der Bund stellte den Kantonen ein Ultimatum, dessen Verstreichen er nicht mehr abwarten konnte. Stattdessen kündigte er weitergehende Massnahmen an. Womit er einzelne Kantone vor den Kopf stiess. Die Vernehmlassung wurde so zur Farce.

Aktuell verdoppeln sich die Zahlen in der Schweiz alle paar Wochen. Man kann sich den weiteren Verlauf der Kurve leicht vorstellen, bis die heute ergriffenen Massnahmen greifen werden. Mittels Szenarien könnte, müsste sich der Bund auf den weiteren Pandemie-Verlauf vorbereiten. Stattdessen verlässt man sich auf das Prinzip Hoffnung. Weitere, unliebsame Überraschungen sind leider nicht ausgeschlossen.

Erwin Schmid

Bundeshausredaktor, SRF

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Erwin Schmid ist Bundeshausredaktor von SRF. Er berichtet seit 2001 für das Unternehmen. Er war Korrespondent in Wien und in Barcelona. Zudem berichtete er als Sonderkorrespondent aus Krisen- und Konfliktregionen. Schmid studierte in Zürich und Wien Umweltnaturwissenschaften und Internationale Beziehungen.

Tagesschau, 11.12.20, 18 Uhr

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