Das Abkommen über die Personenfreizügigkeit ist das am stärksten umstrittene aller Bilateralen. Auch im Zusammenhang mit den neuen Verträgen zwischen der Schweiz und der EU gibt die Zuwanderung zu reden. Nur: Einfluss auf die Zuwanderung hätten die neuen Verträge kaum. Das sind die Gründe.
1. Grundsatz bleibt: Wer arbeitet, darf kommen
EU-Bürgerinnen und EU-Bürger mit einem Arbeitsvertrag oder ausreichend Vermögen dürfen mit ihrer Familie in die Schweiz kommen. Das gilt auch für Schweizerinnen und Schweizer, die in die EU ziehen wollen. Die meisten Zugewanderten kämen, weil die Wirtschaft sie brauche, heisst es vom Staatssekretariat für Wirtschaft Seco. Beim Grundsatz, dass aus der EU kommen darf, wer Arbeit hat, gibt es keine Anpassungen.
2. Wenige Paare erhalten zusätzliche Rechte
Der Bundesrat schreibt, es sei «davon auszugehen, dass es sich um eine vernachlässigbare Anzahl von zusätzlichen Personen handelt, die aufgrund der neuen Rechte […] in die Schweiz einwandern würde.» Konkret geht es dabei um gleichgeschlechtliche Paare. Künftig hätte der Partner oder die Partnerin einer Arbeitskraft Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung. Das Staatssekretariat für Migration erklärt: «In der Praxis werden viele dieser Personen bereits heute zugelassen.»
Es ist davon auszugehen, dass es sich um eine vernachlässigbare Anzahl von zusätzlichen Personen handelt, die aufgrund der neuen Rechte […] in die Schweiz einwandern würde.
Konkrete Zahlen liefert der Bund nicht. Es dürften wohl einige Hundert Personen zusätzlich einwandern im Vergleich zu heute. Die direkten Auswirkungen der neuen Verträge auf die Zuwanderung wären also klein.
3. Schweiz hätte Veto-Recht bei neuen Zuwanderungsregeln
Neu verpflichtet sich die Schweiz dazu, Weiterentwicklungen des EU-Rechts bei der Personenfreizügigkeit sogenannt dynamisch zu übernehmen. Damit ist eine Anpassung der Regeln in Zukunft denkbar, was zu mehr Zuwanderung führen könnte. Matthias Oesch, Professor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Zürich, spricht deshalb von einem «erheblichen Integrationsschritt».
Im Einzelfall könnte die Schweiz entscheiden, ob sie Anpassungen tatsächlich übernimmt. Täte sie das nicht, hätte die EU das Recht, Ausgleichsmassnahmen zu ergreifen. Die Schweiz hat also ein Veto bei Lockerungen der Zuwanderungsregeln, das aber mit einem politischen Preis verbunden wäre.
4. Lockerungen durch den Europäischen Gerichtshof «nicht realistisch»
Was, wenn die EU-Seite die Regeln nicht politisch lockert, sondern juristisch, durch den Europäischen Gerichtshof? Europarechtler Oesch sagt, die Schweiz akzeptiere, dass auch künftige Urteile des Gerichtshofs Auswirkungen auf das bilaterale Verhältnis hätten.
Der Gerichtshof könne die Zuwanderungsregeln aber nicht einfach ausbauen: «Die EU und die Schweiz haben den Verträgen extra eine Erklärung beigefügt.» Weiterentwicklungen der Personenfreizügigkeit auf der Basis der Unionsbürgerschaft seien für die Schweiz daher nicht verbindlich. Das Staatssekretariat für Migration erklärt, eine verstärkte Zuwanderung infolge neuer EuGH-Rechtssprechung sei «nicht wirklich realistisch».
5. Kein Rückgang der Zuwanderung in Sicht
Die Zuwanderung dürfte aufgrund der neuen Verträge auch nicht zurückgehen. Die neu ausgehandelte Schutzklausel, die als Zuwanderungsnotbremse wirken soll, wird praktisch nur schwer zu aktivieren sein. Sie ist kein Instrument für die Steuerung der Zuwanderung, sondern eine Art Notfallmechanismus. Ihr Einfluss auf die Zuwanderung dürfte in der Praxis deshalb klein sein.