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Öffentliche Anhörung Experiment geglückt – aber mit beschränkten Erkenntnissen

Öffentliche Anhörungen oder Hearings im Parlament sind in diesem Land selten. Nur fünf Mal hat es solche gegeben in den letzten 27 Jahren, das letzte Mal 2003 zum neuen Radio und TV-Gesetz. So gesehen, war diese «öffentliche Anhörung zum institutionellen Abkommen Schweiz-EU» etwas ganz Besonderes. Normalerweise erfährt die Öffentlichkeit nie, was in Kommissionsitzungen läuft.

Keine Selbstinszenierung, keine Show

Obwohl das Rahmenabkommen wohl das derzeit umstrittenste Thema ist, haben die Parteien dieses Hearing überhaupt nicht «benutzt», um Stimmung für oder gegen den Vertrag zu machen.

Inhaltlich verlangte es den Zuhörern bzw. Zuschauern aber einiges ab. Selbst für dossiersichere Journalisten war die über weite Strecken juristisch geführte Diskussion am Limit des Verständlichen. Trotzdem sind mir zwei Sachen geblieben.

  1. Erstaunlicherweise hatte das Thema Lohnschutz während der Debatte untergeordneten Stellenwert. Dies lag wohl daran, dass alle sechs anwesenden SP-Aussenpolitiker nicht dem gewerkschaftlichen, sondern dem europafreundlichen Flügel angehören. Könnte es aber auch sein, dass der Lohnschutz in der medial-journalistischen Debatte schlicht zu viel Aufmerksamkeit erhalten hat?
  2. Keine Überraschung war, dass die beiden Themen «dynamische Rechtsübernahme» und das im Rahmenabkommen vorgesehene «Schiedsgericht» am meisten zu reden gaben. In diesen Themen waren sich die Experten nicht einig. Während alle drei Europarechtsprofessoren (Astrid Epiney, Christa Tobler und Matthias Oesch) Vorteile in der dynamischen Rechtsübernahme (Rechtssicherheit und neue Mitspracherechte für die Schweiz) sehen, waren der ehemalige Diplomat Paul Widmer und der langjährige EFTA-Gerichtspräsident Carl Baudenbacher kritisch eingestellt zur «Dynamisierung». In Analogie zum Europäischen Menschengerichtshof EGMR mahnte Widmer, man wisse nicht, was beim Übergang von einem statischen zu einem dynamischen Zustand passieren werde. «Wer hätte beim Beitritt zum EGMR 1974 gedacht, dass sich der Gerichtshof einmal mit Steuerfragen und/oder Sozialabgaben befassen würde?», so Widmer.

Eine entscheidende Frage

Carl Baudenbacher sieht im ausgehandelten Schiedsgericht ein «Feigenblatt». Dieses sei stets abhängig vom Europäischen Gerichtshof EuGH. Das Schiedsgericht müsse sich bei der Auslegung von EU-Recht (und die Bilateralen seien vor allem EU-Recht) an die Rechtsprechung des EuGH halten. Wo bleibe da die Unabhängigkeit? Die drei EU-Rechtsprofessoren hielten dagegen. Das Schiedsgericht sei sehr wohl eigenständig. Dieses entscheide am Schluss – und nicht der EuGH. Wie auch immer.

Die Freiburger Europarechtsprofessorin Astrid Epiney stellte am Schluss die wohl entscheidende Frage: Sind die neuen Elemente (Schiedsgericht und dynamische Rechtsübernahme) so gewichtig, um am Schluss das Rahmenabkommen nicht zu unterzeichnen? Dies sei eine politische Frage, bei der die Politiker (und später wohl auch das Volk) die Tragweite sehr genau abschätzen müssten.

Materie hoch komplex

Fazit: Das Experiment einer sachlichen Diskussion zu einem höchst umstrittenen Thema ist heute geglückt, Selbstinszenierungen blieben aus. Die Schwerpunkte wurden im Hearing anders gesetzt als in der medialen Debatte. Der Lohnschutz war zweitrangig.

Doch trotz drei Stunden Debatte blieb der Erkenntnisgewinn beschränkt: Die Materie ist so komplex, dass am Schluss viele Politiker (und das Volk) wohl per Bauchentscheid Ja oder Nein zum Rahmenabkommen sagen werden.

Christoph Nufer

Leiter Bundeshausredaktion, SRF

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Christoph Nufer ist seit 2016 Leiter der Bundeshausredaktion des Schweizer Fernsehens SRF. Davor war er als EU-Korrespondent in Brüssel stationiert.

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