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Omikron in der Schweiz Sind wir mitten in der Durchseuchung, Frau Stadler?

Die Omikron-Welle dürfte noch im Januar ihren Höhepunkt erreichen, schätzt die wissenschaftliche Taskforce des Bundes. Was das für die Schweiz heisst, sagt Tanja Stadler, Präsidentin der Taskforce, im Interview.

Tanja Stadler

Mathematikerin und Biostatistikerin

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Tanja Stadler präsidierte bis zur Auflösung im Frühling 2022 die wissenschaftliche Corona-Taskforce des Bundes. Seit Ende November ist sie nun die Präsidentin des neuen Covid-Beratergremiums, das Bund und Kantone berät. Es umfasst 14 Mitglieder aus unterschiedlichen Institutionen und Fachbereichen. Tanja Stadler ist Professorin am Departement für Biosystems Science und Engineering an der ETH, das in Basel angesiedelt ist. Die Mathematikerin und Biostatistikerin entwickelt unter anderem Methoden, um die Ausbreitung von Virus-Epidemien zu berechnen.

SRF News: Sind wir mitten in der Durchseuchung der Schweizer Bevölkerung?  

Tanja Stadler: Wir sind mitten in der Omikron-Welle. Die Zahl der Infektionen geht stark nach oben und wir rechnen damit, dass viele Menschen in der Schweiz infiziert werden.

Dann ist das jetzt die Durchseuchung?

Sehr viele von denen, die nicht geboostert oder nicht geimpft sind, werden eine Immunität durch eine Infektion mit Omikron erlangen.

Sie erwarten den Höhepunkt dieser Welle in etwa zwei Wochen – mit infizierten 10 bis 30 Prozent der Bevölkerung innerhalb einer Woche. Konkret: 1 bis 2.5 Millionen Infizierte!

Das sind in der Tat sehr viele Infektionen. Das wird sowohl unser Gesundheitssystem als auch unsere Gesellschaft auf die Probe stellen. Man muss sich aber in Erinnerung rufen, dass bereits letzte Woche 3.5 bis 5 Prozent der Bevölkerung infiziert wurden. Wir sind also auf dem Weg dahin.

Sie haben auch gesagt, man rechne in dieser einen Woche mit Höchstständen in den Spitälern, mit bis zu 300 zusätzlichen Intensivpatienten und mehreren Tausend Spitaleinweisungen. Kann unser Gesundheitssystem das bewältigen?

Das sind die oberen Schätzungen. Die Zahl der Intensivpatienten kann zwischen 80 und 300 pro Woche sein. 80 ist eine Zahl, die wir schon oft geschafft haben – bei 300 wird es schwieriger. Man muss aber auch sagen: Die Intensiv-Zahl ist im Vergleich zu den Spitaleinweisungen relativ niedrig, weil in die Intensivstationen kommen die Ungeimpften – und wir haben nicht mehr so viele Ungeimpfte.

Wenn man Omikron anschaut, auch in anderen Ländern, dann ist klar: Es ist nicht nur ein harmloser Schnupfen.

Was die Spitaleinweisungen betrifft: Das können 1000 sein, es können aber auch 10'000 sein. Das hängt davon ab, wie gut die Impfung die doppelt Geimpften noch schützt – 90 Prozent oder 85 Prozent? Und entsprechend sind es auch grosse Varianzen, auf die wir uns einstellen müssen.

Würde ein Lockdown helfen?

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Der Bundesrat entscheidet am Mittwoch. Würde es etwas nützen, wenn ein Lockdown verfügt würde? Tanja Stadler sagt:

«Es sind im Vergleich zu den bestätigten Zahlen, die wir heute sehen, nochmals deutlich mehr Infektionen in der Zwischenzeit passiert. Es braucht sieben bis zehn Tage, bis wir die Fälle bestätigt haben, die Dunkelziffer ist gross. Das heisst: Sehr viele Infektionen sind schon passiert. Aber natürlich, wenn wir alle ab heute keine Kontakte mehr haben, wird die Spitze der Welle flacher ausfallen, aber es wird trotzdem eine grosse Welle sein.»

Trotz stark steigender Infektionszahlen: Die Zahl der Hospitalisierungen und der Intensivpatienten geht zurück. Sie sagen jetzt trotzdem, es werde «explodieren» in den nächsten Wochen. Wie kommen Sie darauf?

Wenn man Omikron anschaut, auch in anderen Ländern, dann ist klar: Es ist nicht nur ein harmloser Schnupfen. Leute werden auch schwer krank von Omikron. Andere Länder sind uns etwas voraus, in London und New York steigen die Hospitalisierungen schon stark an. Und: Auch in der Schweiz sind die Fallzahlen vor Weihnachten leicht gesunken, aber man konnte schon sehen, dass sich Omikron in dieser sinkenden Delta-Welle stark ausgebreitet hat, entsprechend sind dann im Januar die Zahlen explodiert.

Alle, die noch nicht mit Omikron in Kontakt waren und nicht geboostert sind, die werden sich noch infizieren, wir werden weitere Infektionen haben.

Das Gleiche sehen wir jetzt in den Spitälern: Die Delta-Einweisungen gehen zurück, aber darunter breiten sich die Omikron-Fälle aus. Und sobald Omikron bei den Spitaleinweisungen dominant ist, erwarten wir, dass die Zahlen stark nach oben gehen.  

Fassen wir zusammen: Die Omikron-Welle wird über uns hinwegrauschen, die Belastung des Gesundheitswesens wird kurzfristig sehr gross sein. Und dann?

Dann gehen wir davon aus, dass die Zahlen wieder heruntergehen. Dann werden wir alle wieder mehr Kontakte eingehen, da freuen wir uns ja auch drauf. Das heisst auch: Alle, die noch nicht mit Omikron in Kontakt waren und nicht geboostert sind, die werden sich noch infizieren, wir werden weitere Infektionen haben. Ob das nochmals eine kleine Welle gibt, kann man noch nicht abschätzen. Aber dann kommt der Frühling und hilft uns, die Infektionen etwas zu bremsen, und auf den Sommer hin werden wir es etwas einfacher haben – ausser es kommt eine andere Variante.

Und dann ist die Pandemie zu Ende?

Dann müssen wir wachsam sein und Daten dazu erheben, wie gut die Immunität in der Schweizer Bevölkerung ist, damit wir uns im Herbst vorbereiten können. Braucht es Auffrischungs-Impfungen? Was müssen wir tun, um den nächsten Winter so zu gestalten, dass es nicht wieder zu Kapazitäts-Engpässen im Gesundheitswesen kommt?

Das Interview führte Urs Leuthard.

Tagesschau, 11.01.2022, 18:00 Uhr

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