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Prostitution in der Schweiz Reporterin im Rotlichtmilieu: «Es braucht Ausstiegshilfen»

Prostitution ist ein mit Tabus behaftetes Thema. Sie ist fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Aber wenn man darüber spricht, dann oft entweder hinter vorgehaltener Hand, abwertend oder zumindest mit vielen Vorurteilen. Die Journalistin Aline Wüst hat ein Buch über das Rotlichtmilieu geschrieben. Zwei Jahre lang war sie fast jeden Abend in Bordellen, sprach mit den Frauen, Freiern, Zuhältern, Polizisten. Das Ausmass der Ausbeutung hat sie erstaunt.

Aline Wüst

Journalistin

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Aline Wüst arbeitet als Journalistin und Reporterin. «Piff, Paff, Puff – Prostitution in der Schweiz» ist ihr erstes Buch. Es erschien am 17. August 2020 im Echtzeit Verlag.

SRF News: Wie hat sich Ihre Haltung gegenüber der Prostitution in der Schweiz im Laufe Ihrer Recherchearbeit verändert?

Alice Wüst: Je länger ich recherchiert habe, desto erstaunter war ich über das Ausmass der Ausbeutung und die psychischen Folgen, über die die Frauen gesprochen haben. Das hat auch mich verändert. Daher auch meine Kritik an der Art und Weise, wie man die Prostitution hier handhabt.

Welchen Weg müsste die Schweiz denn gehen?

Die Diskussion in der Schweiz läuft in Richtung Normalisierung und Legalisierung: Sexarbeit ist Arbeit. Auf der anderen Seite gibt es das nordische Modell. Ich will mich nicht für ein Modell aussprechen, aber ich finde, die Schweiz müsste der Prostitution gegenüber die Haltung ändern.

Die Schweiz müsste der Prostitution gegenüber die Haltung ändern.

Was meinen Sie damit?

Es ist wichtig, klarzumachen, dass jede Frau und jeder Mann, die oder der in der Prostitution ist, daraus herauskommen kann, wenn sie oder er will. Wir bräuchten Ausstiegshilfen für die Frauen. Wir bräuchten Perspektiven, und wir bräuchten leider auch ganz viele Therapieplätze. Das würde etwas kosten.

In Ihrem Buch gibt es keine glücklichen Prostituierten, keine, die das aus freien Stücken macht. Und doch gibt es Prostituierte, die sagen: «Ich habe diesen Weg für mich gewählt.» Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

Diese Stimmen sind auch wichtig. Sie haben ihre Berechtigung, und ich spreche das auch niemandem ab, dass er oder sie wirklich so empfindet. Ich bin aber überzeugt, dass es der grossen Masse der Frauen anders geht. Diese Frauen können sich nicht äussern, weil sie gefangen sind in Angst und Scham.

Wenn uns diese Frauen nicht egal sind, müssen wir einen Weg finden, sie aus dieser Ausbeutung zu holen.

Aber nur weil sie sich nicht äussern können, heisst das nicht, dass ihre Stimme nichts wert ist und dass wir sie nicht hörbar machen müssen.

Beim schwedischen Modell werden die Prostituierten nicht kriminalisiert. Aber Freier machen sich strafbar. Wäre das eine Lösung für die Schweiz?

Es gibt viele, die sich dafür aussprechen. Ich möchte da keine Position beziehen. Aber ich finde, wenn jemand aussteigen will, muss er aussteigen können. Und wir müssen eine Lösung finden für die unzähligen Migrantinnen. Bei einem grossen Teil stehen Zuhälter dahinter. Wenn uns diese Frauen nicht egal sind, müssen wir einen Weg finden, sie aus dieser Ausbeutung zu holen.

Während des Lockdowns war Prostitution nicht erlaubt. Wie hat sich das Leben der Frauen, die Sie porträtierten, verändert durch die Pandemie?

Viele der Frauen sind nach Hause gereist, aus Angst, nicht mehr nach Hause zu kommen. Die, die hier geblieben sind, hatten Existenzängste. Von denen, die ich kenne, haben fast alle Hilfen erhalten, wie in anderen Berufen auch.

Gibt es die Prostitution, so wie Sie sie beschreiben, trotz Corona noch?

Ja. Ich war kürzlich wieder in dem Puff, in dem ich viel recherchiert habe. Dort gibt es bessere und schlechtere Tage. Aber da läuft eigentlich alles wieder relativ normal. Die Frauen, die ich kenne, sind wieder aus Osteuropa zurückgekommen und die anderen Frauen, mit denen ich ausserhalb dieses Bordells Kontakt habe, sind auch wieder am Arbeiten.

Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.

Echo der Zeit, 20.09.2020, 18 Uhr ; 

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