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Recherche über ETH-Professor Maulkorb für «Tagi» wirft Fragen zur Medienfreiheit auf

Greifen Behörden vermehrt in den Investigativjournalismus ein? Medienrechtler Urs Saxer relativiert und warnt zugleich.

Medien geraten unter Druck, Journalisten werden behindert. Neuestes Beispiel: Der «Tages-Anzeiger» hat über einen renommierten Dozenten der ETH recherchiert und die Hochschule nach eigenen Angaben mit den Recherchen konfrontiert. Die ETH reagierte offenbar schockiert. Der Professor bestreitet jedes Fehlverhalten. Er hat beim Bezirksgericht Zürich eine superprovisorische Verfügung erwirkt. Damit bleibt der Fall für die Leserschaft vorerst im Dunkeln.

Bremsen mit System?

Legen Behörden und Institutionen den Medien bei der Berichterstattung vermehrt Steine in den Weg? Ein konkretes Bild sei mangels Statistiken schwierig, sagt Urs Saxer, Anwalt und Professor für Medienrecht an der Universität Zürich. Solche superprovisorischen Verfügungen seien aber nicht alltäglich. Tatsache sei wiederum, dass das Parlament die Voraussetzungen für superprovisorische Begehren vor nicht allzu langer Zeit erleichtert habe.

Die Diskussion, dass mit der Gesetzgebung der Spielraum der Medien in der Schweiz zum Teil eingeengt werde, sei entsprechend nicht neu. Gerade die vorliegende superprovisorische Massnahme sei exemplarisch, sagt Saxer und betont: «Es ist bei all diesen Einschränkungen immer so, dass letztendlich auch die Medienfreiheit bei der Interpretation dieser Gesetzesnormen zu berücksichtigen ist.»

Urs Saxer
Legende: Urs Saxer ist Professor am Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht der Universität Zürich. Er ist Professor unter anderem für Medienrecht. Keystone/Walter Bieri

Medienrechtler Saxer erinnert daran, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg die Schweiz in medienrechtlichen Verfahren auch schon zurückgepfiffen hat. In einzelnen Fällen sei die Schweiz tatsächlich zu weit gegangen.

Wir sind nach wie vor ein demokratischer Rechtsstaat und können uns sehr frei äussern. Doch man muss wachsam sein.
Autor: Urs Saxer Rechtsprofessor Universität Zürich

Als heikel für die Demokratie will Saxer die aktuelle Entwicklung angesichts der Korrekturmechanismen nicht bezeichnen. «Wir sind nach wie vor ein demokratischer Rechtsstaat und können uns sehr frei äussern. Doch man muss wachsam sein.» Alle diese Fragen dürften aber öffentlich diskutiert werden.

Personalisierung und Persönlichkeitsrechte

Saxer gibt zu bedenken, dass die Berichterstattung in solchen Fällen immer sehr personalisiert ist. Dies lasse die mögliche Schlussfolgerung zu, dass die Persönlichkeitsrechte heute eher in Gefahr sind als vielleicht in früheren Zeiten.

Der Journalismus sei vielleicht auch unter der verstärkten Konkurrenz der Medien angriffiger geworden: «Das hat auch seine guten Seiten: Gut recherchieren ist eine Kunst und kann sehr viel ans Licht bringen. Das wird von den Medien erwartet.» In diesem Spannungsverhältnis nehme die Medienfreiheit eine wichtige Rolle ein.

ETH-Hauptgebäude in Zürich.
Legende: Die Veröffentlichung der Recherchen des Tages-Anzeigers rund um den Fall des ETH-Dozenten ist zurzeit durch eine superprovisorische Verfügung untersagt. Keystone/Gaetan Bally

Saxer konstatiert, dass juristische Verfahren im Journalismus heute eine viel stärkere Rolle spielten als früher. Etwa, wenn sich Medien gegen ungerechtfertigte Angriffe auf den Quellenschutz verteidigen müssten. Bei Interessen des Staatsschutzes und einem ganzen Katalog von Verbrechen kann ohnehin kein Quellenschutz geltend gemacht werden.

Ein angriffiger Recherchejournalismus kommt häufig ohne begleitende juristische Beratung nicht aus.
Autor: Urs Saxer Rechtsprofessor Universität Zürich

Entsprechend bestehe auch das Risiko, dass von gewissen Recherchen eher abgesehen werde, wenn die nötigen Mittel fehlten. Denn ein angriffiger Recherchejournalismus komme häufig ohne begleitende juristische Beratung nicht aus, bemerkt Saxer. Das mache die Recherche aufwändig: «Und trotzdem ist es umso wichtiger, dass sie geschieht. Dazu braucht es Medienunternehmen, die bereit sind, dieses Geld zu investieren.»

Rendez-vous, 30.08.2024, 12:30 Uhr ; 

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