Über 16'000 Russinnen und Russen leben in der Schweiz. Viele arbeiten etwa im Gesundheitswesen als Krankenpflegerinnen und -pfleger oder in der IT-Branche. Auch wenn sie auf keiner Sanktionsliste stehen, so hat sich doch für sie das Leben in den letzten Wochen verändert. Sie bekommen den psychologischen Druck zu spüren, das Stigma, Russin oder Russe zu sein.
Dies sei der «Point of no Return», dachte der in Zürich lebende Russe Aleksei vor rund acht Wochen, als russische Soldaten in die Ukraine einmarschierten. Doch das sei nur der Anfang gewesen: «Täglich sieht man nun, dass alles immer nur noch viel schlimmer wird.»
Täglich sieht man nun, dass alles immer nur noch viel schlimmer wird.
Mit jedem weiteren Kriegstag und jedem Ereignis, dass die Brutalität Russlands offenlege, nehme der Druck auch auf ihn zu, erzählt der junge Informatiker, der seit sechs Jahren in der Schweiz lebt.
Aleksei spürt den psychologischen Druck durch die Propaganda von beiden Seiten, gegen die Russen wie auch gegen den Westen. Das hängt auch damit zusammen, dass sein bester russischsprachiger Freund in der Schweiz ein Ukrainer ist. Viele Videos sind im Umlauf: «Zu sehen und zu hören, dass alle Russen böse und Barbaren seien, tut natürlich weh», sagt Aleksei.
Verständnis für Hass
Vor allem in den Sozialen Medien spüre er die Welle des Hasses gegen die Russinnen und Russen. «Ich verstehe das, wenn das von den Ukrainern kommt. Für sie ist die Situation jetzt kritisch. Vielleicht müssen sie zusammenhalten durch den Hass gegen die Russen.»
Aleksei spürt aber auch den Druck von russischer Seite, die Stimmung gegen den Westen macht. Und als Russe in der Schweiz gehöre er zur westlichen Welt. Das werde zunehmend zum Problem für seine Freunde, die in Russland lebten.
Kommunikation wird schwieriger
«Wir versuchen zwar, nicht über Politik zu sprechen, aber manchmal geht das nicht und man landet beim Krieg», so Aleksei. Das sei nicht nur konfliktgeladen, sondern auch gefährlich, denn er wolle seine in Russland lebenden Eltern und seine Frau nicht mit russlandkritischen Äusserungen gefährden.
Ich sage zwar noch, dass ich Russe bin, doch entschuldige mich dann gleich, weil ich mich schäme.
Aber nicht nur im Umgang mit seinen ukrainischen und russischen Freunden habe sich sein Verhalten verändert. Auch gegenüber Schweizerinnen und Schweizern trete er – je länger der Krieg andaure – vorsichtiger und zurückhaltender auf: «Ich sage zwar noch, dass ich Russe bin, doch entschuldige ich mich dann gleich, weil ich mich schäme.» Sich zu entschuldigen, sei für ihn zur Normalität geworden.
Hoffen auf den Schweizer Pass
Der Krieg in der Ukraine habe ihm zugleich den Entscheid einfacher gemacht, wo er künftig leben wolle, so Aleksei: «Ich hoffe, dass ich mich in fünf Jahren einbürgern lassen kann. Dann kann ich meinen russischen Pass abgeben.» Dann sei er Schweizer. Auf dem Papier.
Russe bleibe ich und werde dieses Stigma für immer tragen müssen.
Denn Russland bleibe das Land, wo er herkomme. «Die russische Kultur kann ich natürlich nicht ablegen, auch wenn ich gegen Putin, den Krieg und die Radikalisierung in Teilen der russischen Gesellschaft bin.»
Aleksei kann sein Verhalten ändern. Seine Freunde. Seinen Pass. Und doch bleibe am Schluss etwas zurück: «Russe bleibe ich – und ich werde dieses Stigma für immer tragen müssen.»