Zum Inhalt springen

Russlandschweizer aus Glarus «Beweint in Sibirien»: Leerer See gibt Glarner Geschichte frei

Die Auswanderung von Glarnerinnen und Glarnern nach Russland prägt die Geschichte des kleinen Bergkantons.

Der tiefe Pegelstand des Klöntalersees gibt momentan ein Stück Geschichte des Kantons Glarus frei. Ein Grabstein aus dem Jahr 1881 – für einen 8-jährigen Knaben – gibt Hinweise darauf, dass seine Pflegeeltern nach Sibirien ausgewandert sind: «Beweint und betrauert im fernen Sibirien», heisst es auf der Inschrift.

Nicht nur Amerika hat gelockt

Fridolin Weber ist Glarner Lokalhistoriker. Er geht aufgrund von Dokumenten davon aus, dass der Junge, mit dem Namen Markus Freuler, in einer Pflegefamilie aufgewachsen ist. Sie ist aus dem Kanton Glarus nach Russland ausgewandert. In den Ferien in der alten Heimat dürfte der Knabe am Ufer des Klöntalersees ertrunken sein.

Fridolin Weber beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Geschichte der Glarnerinnen und Glarner, die zwischen 1750 und 1900 in Richtung Osten ausgewandert sind.

Irgendwann in den Siebzigerjahren stand plötzlich der Nachbar mit einer Kartonschachtel vor der Tür.
Autor: Fridolin Weber Glarner Lokalhistoriker

Drei Generationen aus der Familie von Fridolin Weber waren als Zivilstandesbeamte und Gemeindeverwalter tätig. «Irgendwann in den Siebzigerjahren stand plötzlich der Nachbar mit einer Kartonschachtel vor der Tür», erzählt er.

Es war der Sigrist der Kirche. Er hatte den Auftrag, das Pfarrhaus zu entrümpeln. «Als er auf eine Schachtel mit alten Dokumenten stiess, wollte er diese nicht einfach verbrennen, sondern hat sie zu mir gebracht», sagt Fridolin Weber. Mit dem Inhalt dieser Kartonschachtel beschäftigt sich Weber seit Jahren.

Ein Taufschein von 1860
Legende: Der Taufschein von Nathalie Kubly lag in einer Kartonschachtel im Pfarrhaus von Netstal. SRF/Christian Masina

Es sind Dokumente aus einer Zeit, in welcher viele Glarner ausgewandert sind. Alte Pässe, Fotografien, Geburtsurkunden und Todesanzeigen lassen Rückschlüsse auf die Zeit zwischen 1750 und 1900 zu. «Auch ein Billett für eine Zugreise von Moskau nach Netstal ist dabei», sagt Weber.

400 Netstaler in Russland

Es war die Epoche der russischen Zaren. 800 Glarnerinnen und Glarner dürften nach Russland ausgewandert sein, 400 davon kamen aus Netstal. Sie hofften auf ein besseres Leben und vor allem auf gute Geschäfte.

Schiefertische, Glarner Ziger und Arbeitseinsätze

Box aufklappen Box zuklappen
Eine Familie fotografiert am 16. Dezember 1938 in Netstal
Legende: Eine Rückkehrerfamilie aus Russland, fotografiert am 16. Dezember 1938 in Netstal. Archiv Fridolin Weber

Die ersten Auswanderer waren fahrende Tischhändler. Sie haben Schiefertische in Europa verkauft. Aber auch Schiefertafeln, Ziger oder Glarner Tee waren im Ausland beliebt.

Die eigentliche Auswanderung begann um 1750. Damals liessen sich die Glarner Händler in Russland nieder. Es folgten Handwerker, Käser und Knechte mit ihren Familien.

Ab 1917 kamen viele Auswanderer wieder zurück in die Schweiz, in ihre Glarner Heimat. Viele von ihnen haben bei der Revolution in Russland ihre Existenz verloren. Sie wurden enteignet, zum Teil verfolgt und haben Russland fluchtartig verlassen.

«In der Folge hat man bis tief ins letzte Jahrhundert in Netstal auch immer wieder Russisch gehört», sagt Weber. Es gab auch russisch-orthodoxe Beerdigungen.

Ich hatte bis vor kurzem ab und zu Kontakt zu Nachkommen von Glarnerinnen und Glarnern in Russland.
Autor: Fridolin Weber Glarner Lokalhistoriker

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 hatte Fridolin Weber Kontakt zu ehemaligen Glarnerinnen und Glarnern. «Sie haben nach der Öffnung nach Verwandten im Kanton Glarus gesucht», sagt Weber. Dieser Kontakt ist jetzt mit dem Krieg abgebrochen.

Fridolin Weber möchte seine Nachforschungen zu den Russlandschweizerinnen aus Glarus in nächster Zeit beenden. In einem Buch will er die Geschichten festhalten.

See gibt Zeitdokument frei

Box aufklappen Box zuklappen
Ein Grabstein im Schlamm des Klöntalersees
Legende: Aus dem Schlamm des Klöntaler Seebodens ragt ein alter Grabstein aus dem Jahr 1881. SRF/Christian Masina

Der Klöntalersee war früher ein kleiner See. 1908 wurde er aufgestaut.

Im Winter ist der Pegelstand des Klöntalersees im Kanton Glarus immer tief. Jetzt wurde der Natursee gereinigt. Dafür wurde der See entleert. Deshalb ist mitten im See – am früheren Ufer des Sees – ein Grabstein von 1881 zu sehen.

Die Kartonschachtel mit all den Dokumenten würde Fridolin Weber gerne ins Russlandschweizer-Archiv in Zürich geben. Damit sie der Öffentlichkeit zugänglich bleiben. Dort, im Schweizerischen Sozialarchiv, gibt es bereits eine Datenbank mit Angaben zu fast 4000 Russlandschweizerinnen und Russlandschweizern. Falls es mit dem Archiv in Zürich nicht klappen sollte, hofft er für seine Kartonschachtel auf einen Platz im Landesarchiv des Kantons Glarus.

Regionaljournal Ostschweiz, 03.04.2023, 17:30 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel