27'000 Mitarbeitende produzieren im Tessin elektrische Apparate, elektronische oder optische Geräte und Computer. Löhne von weniger als 3000 Franken pro Monat sind häufig. Viele dieser Mitarbeiter sind Grenzgänger. Der Tessiner Staatsrat hat festgestellt, dass viele von ihnen gravierenden Lohnmissbräuchen ausgesetzt sind.
Deshalb, und weil es keinen Gesamtarbeitsvertrag gibt, hat der Kanton für diese Industriezweige einen Mindestlohn von 17.30 Franken pro Stunde plus Ferien- und Feiertagszulagen verfügt. So soll im Tessin das Lohndumping bekämpft werden.
Sechs betroffene Firmen sowie die Swissmem als Branchenverband und die Tessiner Industrievereinigung zogen den Fall bis vor Bundesgericht. Und sie unterlagen.
Keine solchen Verträge in der Deutschschweiz
Besonders wichtig dabei ist: Das Bundesgericht schützt das Tessiner System, mit dem Lohnmissbräuche erfasst werden. Dieses System ist der Schlüssel bei der Feststellung von Lohndumping. Anhand einer Datenbank mit über 40'000 Lohndaten wird ein kantonaler Referenzlohn ermittelt. Nach dem Vergleich mit diesem Referenzlohn wird festgestellt, wie oft und wie stark dieser unterboten wird.
Wenn das Lohndumping gravierend ist, kann die Kantonsregierung via Normalarbeitsvertrag einen Mindestlohn erzwingen. Das gilt in der ganzen Schweiz. In den Deutschschweizer Kantonen gibt es keinen einzigen kantonalen Normalarbeitsvertrag. Das zeigt eine Auflistung des Staatssekretariats für Wirtschaft Seco.
Hingegen gibt es welche in den Westschweizer Kantonen Genf, Wallis und Jura sowie im Tessin. Der Lohndruck und vor allem der politische Druck ist dort gross. Im grenznahen Teil von Italien leben ebenso viele Menschen wie in der gesamten Schweiz. Viele sind auf Arbeitssuche. Und sie akzeptieren auch tiefe Löhne.
Tessiner Datenbank als «Mass der Dinge»
Das Urteil aus Lausanne hat grosse praktische Auswirkungen: Erstmals hat sich das Bundesgericht dazu geäussert, wie Lohndumping festgestellt werden kann. Bisher war das umstritten. Die Arbeitgeber waren für eine Berechnungsmethode, aus der tiefe Durchschnittslöhne hervorgingen, die Arbeitnehmer sahen das umgekehrt.
Das Bundesgericht schützt damit einstimmig die Tessiner Berechnungsmethode mit der Datenbank. Nun ist der Weg frei, sie auch auf andere Branchen anzuwenden. Zum Beispiel auf den Dienstleistungssektor, und warum nicht, auch in der Deutschschweiz.