Ein hypothetischer Fall: Frau Meier lebt in einer kleinen Gemeinde. Sie hat Alkoholprobleme, kümmert sich kaum noch um ihre Kinder. Das fällt einem Arzt auf, und dieser meldet den Fall dem Kindes- und Erwachsenenschutz. Vor nicht allzu langer Zeit entschieden Laien, was in so einem Fall zu tun ist.
Eine Sozialarbeiterin aus dem Kanton Solothurn, die ihren Beruf seit 25 Jahren ausübt und anonym bleiben möchte, sagt es so: «Es gab sicher Situationen, wo der Nachbar über den ganz persönlichen Bereich seiner Nachbarin entschieden hat.»
Laien mit beachtlichen Befugnissen
Im alten System konnte jeder Mitglied der Vormundschaftsbehörde einer Gemeinde sein, die Nachbarin oder der Handwerker aus dem Dorf. Ungefähr einmal im Monat traf man sich zu einer langen Sitzung. Manchmal mit ungewöhnlichem Ergebnis. Es kam vor, dass Mitglieder der Vormundschaftsbehörde Schutzbedürftige vorübergehend bei sich zu Hause aufnahmen.
Vor zwei Jahren aber änderte sich fast alles. Hansueli Schär, der seit vielen Jahren im Emmental für den Kindes- und Erwachsenenschutz arbeitet, zum Wandel: «Früher haben noch sehr viele Gemeinden selber Abklärungen vorgenommen. Heute nehmen Profis von den sozialen Diensten diese Aufgabe wahr.»
Professionalisierung der Abklärungen
Heute klären in jedem Fall professionelle Sozialarbeiter ab, was bei Leuten schief läuft, die Hilfe brauchen. Und nicht nur das: Es kommt neu eine ebenfalls professionelle Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ins Spiel, kurz Kesb. Dort entscheiden Juristen, Sozialarbeiter und Psychologen, was geschehen soll. Etwa, ob die Kinder bei ihren Eltern bleiben können.
Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden decken meistens mehrere Gemeinden ab und treffen Entscheidungen oft, ohne dass ihre Mitglieder die Betroffenen persönlich kennen.
Der direkte Kontakt fehlt
Für Schär, heute Mitglied der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Emmental, ist der Arbeitsalltag deshalb jetzt ein anderer: «Früher war ich mehr an der ‹Front›. Heute ist es dies weniger der Fall. Ich führe nun die Anhörungen durch. Aber die Abklärungen im Umfeld, mit weiteren involvierten Personen, die fallen bei mir nun weg.»
Dass er weniger Kontakt hat zu den Leuten, um die es eigentlich geht, störe ihn. Schär fehlt allerdings nicht nur der Kontakt, sondern oft auch die Zeit, um Fälle vertieft abzuklären. Etwa die Zeit, um auch noch mit dem Arzt über einen schutzbedürftigen Menschen zu sprechen: «Wenn die Zeit dafür da ist, kann man noch besser, noch eingehender Abklärungen vornehmen.»
Es braucht mehr Personal
Umso wichtiger wäre es laut Schär, dass die Sozialdienste, die die Vorarbeit leisten und Berichte schreiben, die Lage vor Ort gründlich abklären. Allerdings fehlt auch diesen Sozialarbeitern oft die Zeit. Zum Vergleich zwischen früher und heute sagt die Solothurner Sozialarbeiterin: «Ich hatte natürlich nie die Anzahl an Dossiers zu bewältigen, wie es heute der Fall ist.»
Deshalb das einhellige Fazit der Fachleute: Es braucht mehr Personal. Sogar die Politik ist damit inzwischen einverstanden, an manchen Orten hat man im Kindes- und Erwachsenenschutz auf einen Schlag zehn neue Stellen geschaffen.
Rückkehr zu altem System keine Option
Klar ist aber auch: Niemand will zurück zum alten System mit den Laienbehörden. Schär begründet dies vor allem damit, dass heute viel mehr Menschen, die Schutz brauchen, diesen auch bekommen: «Ich habe festgestellt, dass die Gefährdungsmeldungen zugenommen haben – in der Hoffnung darauf, es werde etwas unternommen.»
Denn heute müssen Menschen wie die fiktive alkoholkranke Frau Meier eben nicht mehr befürchten, dass ihr Nachbar intime Details über sie erfährt und dann über ihr Schicksal mitentscheidet.