SRF News: Wäre das Tessin auf eine mögliche Verlagerung der Flüchtlingsroute vorbereitet?
Norman Gobbi: Wir sind vorbereitet. Die Pläne stehen, damit wir eine ausserordentliche Lage bewältigen könnten. Wir könnten damit umgehen, wenn mehrere Hundert Flüchtlinge an der Grenze in Chiasso ankommen. Wir haben aber auch Probleme aufgezeigt, die der Bund lösen muss. Denn nachdem wir die Flüchtlinge kontrolliert haben, müssen sie an die anderen Kantone verteilt werden. Und wir hätten etwa auch ein Transportproblem; denn die SBB kann nicht alle Menschen aufnehmen. Darum haben wir dem Bund eine Liste mit Forderungen unterbreitet.
Was fordern Sie konkret?
Sicher auch, dass politisch ohne Tabus über diese Themen diskutiert wird. Wenn alle Staaten um uns herum Massnahmen treffen, fliesst der Flüchtlingsstrom durch die Schweiz und den Kanton Tessin. Das ist meine Befürchtung. Bislang hat nur Italien keine Massnahmen getroffen, es bleibt das einzige offene Tor zwischen dem Mittelmeer und Europa. Wir sind nicht bereit, pro Tag oder monatlich Tausende aufzunehmen. Dann haben wir zunächst ein Problem im Tessin, und dann im Rest der Schweiz.
Sie fordern also systematische Kontrollen an der schweizerisch-italienischen Grenze?
Sicher müssen wir Massnahmen treffen, die es heute nur zum Teil gibt. Wir üben bereits Druck aus, haben mit den italienischen Behörden Massnahmen getroffen, um die Rückübernahme sicherzustellen. Es muss aber auch auf Bundesebene etwas getan werden. Heute mag die Ost- und Nordwestschweiz betroffen sein. In ein paar Monaten wird es sicher die Südschweiz sein. Normalerweise ist die Mittelmeer-Route zwischen April und Oktober offen – und schon im letzten Jahr haben wir die Erfahrung einer sehr schnellen Steigerung der Flüchtlingszahlen an der Südgrenze gemacht.
Es darf keine politischen Tabus geben.
Schon oft wurde gewarnt, die Zahl der Flüchtlinge könnte stark ansteigen. Passiert ist dann jeweils nicht ganz so viel. Sollte man nicht erst einmal abwarten, was effektiv passiert, bevor man Massnahmen ergreift?
Wir müssen die Massnahmen bereits planen, aber auch schon Ideen haben, wie man mit solch eine ausserordentliche Lage umgeht. Sonst nehmen wir unsere Aufgabe als Grenzkanton und ich als Sicherheitsdirektor nicht wahr.
Sie sagen, es brauche Massnahmen auf Bundesebene. Wo stehen Sie bei den Verhandlungen?
Wir haben allfällige Massnahmen diskutiert – ein bisschen. Denn es gibt auf Bundesebene politische Tabus, Höchstzahlen zu fixieren oder das Wort auch nur zu nennen. Wir müssen davon ausgehen, dass die Kantone nicht Tausende von Migranten aufnehmen können. Wir haben weder die Plätze noch die Ressourcen für die Betreuung. Zum Schluss müssen wir auch an die finanziellen Konsequenzen für Bund und Kantone denken.
Wir müssen den Schwarzen Peter nicht von der EU übernehmen.
Hat Ihnen Justizministerin Simonetta Sommaruga bereits konkrete Lösungen und Massnahmen in Aussicht gestellt?
Der Bund konzipiert eine Vorsorgeplanung zur Bewältigung der Krise. Das gilt aber nur für die Erstaufnahme. Die Verteilung und Unterbringung der Migranten in den Kantonen ist deren Sache. Aber wir haben in den Kantonen schon heute Mühe, diese Leute unterzubringen und anschliessend zu betreuen. Das Personal fehlt. Zum Schluss gibt es auch finanzielle Probleme: Zur Bewältigung der Migration müssen wir Millionen, wenn nicht sogar Milliarden zur Verfügung stellen. Wir müssen diese Gelder aus anderen Bereichen abziehen.
Heisst das nun, dass Sie vom Bund systematische Grenzkontrollen fordern und nur eine gewisse Anzahl Flüchtlinge über die Grenze gelassen wird?
Es ist klar: Wir haben Abkommen unterschrieben, zum Beispiel Dublin und Schengen. Wir wissen aber seit jeher, dass Italien diese zwei Abkommen nicht korrekt umsetzt – es registriert nicht alle Migranten, und diese deponieren auch nicht alle ihr Asylgesuch im ersten Dublin-Staat. Wir müssen den Schwarzen Peter nicht übernehmen.
Trotzdem: Höchstzahlen sind aktuell ein Tabu. Sogar ihr Parteikollege von der SVP, Heinz Brand, sagt, dass Obergrenzen mit der Flüchtlingskonvention nicht vereinbar sind.
Eigentlich schon. Aber wenn es die anderen EU-Mitgliedstaaten machen, können wir es uns erlauben. Die Schweiz ist ein kleines Land. Und wenn die «Grande Nation» Frankreich nur 30'000 Migranten aufnehmen will – weniger als die Schweiz im letzten Jahr – zeigt das, dass die EU ein Problem hat. Eines, das sie nicht lösen will. Ich stehe nicht dafür ein, dass die Schweiz die Probleme der EU löst.
Das Gespräch führte Roger Aebli.