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Spitäler am Anschlag Ethikerin: «Triage-Situation ist ein Dilemma für den Rechtsstaat»

Derzeit stellen sich ob der weiterhin sehr hohen Corona-Fallzahlen viele bange Fragen. Eine davon ist: Wie lange noch, bis die Intensivbetten belegt sind und möglicherweise Patienten abgewiesen beziehungsweise triagiert werden müssen? In welche ethischen Konflikte eine Triage führt, erklärt die Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle.

Ruth Baumann-Hölzle

Ethikerin

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Ruth Baumann-Hölzle ist Institutsleiterin bei der Stiftung Dialog Ethik . Sie ist Ex­per­tin für Ethik in Or­ga­ni­sa­ti­on und Ge­sell­schaft und hat Theologie studiert.

Der Schwer­punkt ihrer Ar­beit: in­ter­dis­zi­pli­näre, in­ter­pro­fes­si­o­nelle und in­ter­or­ga­ni­sa­ti­o­nale ethi­sche Ent­schei­dungs­fin­dung im Ge­sund­heits- und So­zi­al­we­sen und an ge­sell­schaft­li­chen Schnitt­stel­len.

SRF: Frau Baumann-Hölzle, Spitäler könnten bald an ihre Grenzen geraten, es könnte zu einer Triage kommen. Wie kann man überhaupt entscheiden, wer ein Bett verdient und wer nicht?

Ruth Baumann-Hölzle: Können tut man dies sehr wohl. Die Frage ist, was sind ethisch vertretbare, gute Triage-Entscheidungen. Die Beantwortung dieser Frage führt stets zu schwerwiegenden ethischen Konflikten.

Welche ethischen Konflikte sind das?

In Einzelfallabwägungen, also wenn es darum geht, ob für einen Patienten lebenserhaltende Massnahmen angemessen sind oder nicht, ist die Seite, die lebenserhaltende Massnahmen ausserhalb von definitiven Sterbesituationen einfordert, immer die stärkere.

Die Triage-Entscheidung ist (...) eine Wahlentscheidung zwischen Menschen, denen beiden medizinische Massnahmen helfen würden, diese aber nicht für beide reichen.

Denn in einem Staat sind sowohl der Autonomieanspruch und das Leben ein hohes Gut. Beides darf nicht aufgrund von Eigenschaften oder Fähigkeiten einer Person eingeschränkt werden, sondern nur dann, wenn der Patient oder seine Stellvertretung etwas nicht mehr will. Selbstverständlich auch dann, wenn lebenserhaltende Massnahmen nur das Sterben verlängern würden.

Die Triage-Entscheidung aber ist keine Einzelfallentscheidung, sondern eine Wahlentscheidung zwischen Menschen, denen beiden medizinische Massnahmen helfen würden, diese aber nicht für beide reichen.

Jedes menschliche Leben hat gleich viel wert, und zwar unabhängig von Eigenschaften und Fähigkeiten. Dies ist die Grundprämisse eines humanen Rechtsstaates und auch die Verfassungsgrundlage der Schweiz.

Da kommt man schnell in eine Debatte, ob krankes oder gesundes, ob junges oder älteres Leben mehr wert ist. Sollte man bei einer Triage junge Leute bevorzugen?

Geht man von der Menschenwürde aus, dann darf man diese Frage eigentlich nicht stellen. Jedes menschliche Leben ist gleich viel wert, und zwar unabhängig von Eigenschaften und Fähigkeiten. Dies ist die Grundprämisse eines humanen Rechtsstaates und auch die Verfassungsgrundlage der Schweiz. Die Triage-Situation ist daher ein grosses Dilemma für den Rechtsstaat.

Ein Staat kann sich aus Menschenrechtsgründen eigentlich nicht leisten, Kriterien zu erstellen, wer eine wirksame Behandlung erhält und wer nicht.

Ärzte in der Schweiz verwenden bestimmte Kriterien, um eine Triage zu machen. Wie passt das in diese Grundprämisse?

Ein Staat kann sich aus Menschenrechtsgründen eigentlich nicht leisten, Kriterien zu erstellen, wer eine wirksame Behandlung erhält und wer nicht. Vor diesem Hintergrund wäre einzig das Los das konsequente Vorgehen, vorausgesetzt, dass diesem alle zustimmen würden. Doch hier meldet sich gleichzeitig auch eine andere moralische Intuition, wonach man den Entscheid nicht dem Zufall überlassen, sondern nach bestimmten Kriterien entscheiden will.

Aus Gründen der Rechtsgleichheit kann man den Entscheid nicht einfach dem einzelnen Arzt oder der einzelnen Ärztin überlassen, sondern es braucht allgemeinverbindlichen Kriterien. Die Bildung der Kriterien für die Triage auf Intensivstationen hat die ärztliche Standesorganisation, die Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), übernommen. Doch diese Organisation ist eigentlich rechtsstaatlich nicht legitimiert dazu, wobei sich die Rechtssprechung in der Schweiz überall dort, wo Gesetze für medizinisches Handeln fehlen, an den medizin-ethischen Richtlinien der SAMW orientiert.

Können wir aus der Corona-Situation aus ethischer Sicht etwas lernen?

Vielen Menschen wurde erst mit dieser Coronakrise wirklich bewusst, dass wir sterblich sind. Gerade weil die Medizin so viel kann, müssen wir uns aber mit der Frage auseinandersetzen, welche lebenserhaltenden Massnahmen wir wollen und welche nicht. Wie wollen wir leben und wie wollen wir sterben?

Ich sehe Corona als grosse Chance. Dass wir uns mit diesen existentiellen Fragen auseinandersetzen, unsere Gedanken mit unseren Liebsten und unserem Hausarzt besprechen und sie dann in einer Patientenverfügung festhalten. Wir können nicht nicht entscheiden. Entweder wir sagen, was uns wichtig ist, oder wir delegieren diese Auseinandersetzung an unsere Nächsten und das medizinische Fachpersonal. Beide tragen unter Umständen schwer daran.

Das Interview führten Fiona Endres und Gioia Jöhri.

10vor10 vom 02.11.2020 ; 

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