Von der Kantonshauptstadt Chur über Davos bis zum San Bernardino: Ein Grossteil der Bündnerinnen und Bündner spricht Deutsch als Muttersprache. Nur jede sechste Person ist mit Rätoromanisch aufgewachsen.
Selbst in klassisch romanischsprachigen Gebieten geht ohne Deutsch längst nichts mehr. Der starke Einfluss der deutschsprachigen Umgebung hat auch das Romanische verändert. Wie viel Deutsch steckt heute im Romanischen?
Im Alltag greift Deutsch durch
Kaum ein Gespräch oder Whatsapp-Chat zwischen Romaninnen und Romanen kommt ohne Einflüsse aus dem Deutschen aus. Viele Begriffe werden dabei direkt übernommen – etwa das «Gipfeli». In einem Chat heisst es dann «Ich hätte noch ein Schoggigipfeli für dich zum Dessert». Auf Rätoromanisch wurde das übersetzt mit «gipfel da tschugalatta».
Das bedeutet jedoch nicht, dass es kein rätoromanisches Wort für «Gipfeli» gibt. Doch viele kennen es schlicht nicht, sagt dazu Michel Decurtins von Radio Rumantsch RTR.
Indem man Lücken im Wortschatz mit deutschen Begriffen schliesst, bleibt man im Romanischen.
Nicht alle Romaninnen und Romanen sprechen gleich gut Romanisch. Um die Verständlichkeit zu erleichtern, greifen viele auf deutsche Wörter zurück – auch bei Whatsapp-Nachrichten.
Prisca Bundi von RTR tat das etwa in den Ferien, als sie aus Ägypten schrieb: Ich gehe jetzt auf den ersten Tauchgang. Das deutsche Wort «Tauchgang» rutschte mit hinein – obwohl sie beruflich sonst auf sauberes Romanisch achtet.
Der Gebrauch deutscher Wörter sei zwar unschön, meint Professor für Rätoromanisch Matthias Grünert von der Universität Freiburg. Doch letztlich könne das der Sprache nutzen. Denn: «Indem man Lücken im Wortschatz mit deutschen Begriffen schliesst, bleibt man im Romanischen und muss nicht ganz ins Deutsche wechseln.»
Langjähriger Sprachwandel
Die Germanisierung sei kein neues Phänomen. Bereits vor Jahrhunderten habe der Einfluss begonnen – durch Walser, die aus dem Süden nach Graubünden kamen und durch Einwanderer aus dem Norden. So auch 1464, als grosse Teile des damals romanischsprachigen Chur niederbrannten und neue Bewohnerinnen und Bewohner Deutsch ins Tal brachten.
Schon im älteren Romanisch finden sich viele Germanismen.
Sprachgrenzen verlaufen manchmal zwischen Quartieren, Dörfern oder Tälern. Seit dem Stadtbrand in Chur von 1464 leben deutsch- und romanischsprachige Bündnerinnen und Bündner Tür an Tür – und damit begann auch der Einfluss des Deutschen auf das Romanische.
«Schon im älteren Romanisch finden sich viele Germanismen», erklärt Sprachwissenschaftler Matthias Grünert. Oft seien sie so integriert, dass man sie gar nicht mehr als solche erkenne. Ein Beispiel ist das Wort «buonder» für «Neugier» – abgeleitet vom deutschen «Gwunder».
Patschifig – typisch Bündnerisch
Mehrere hundert Jahre sprachlicher Nachbarschaft haben Spuren hinterlassen – nicht nur im Romanischen, sondern auch im Deutschen. Die Grenzen zwischen den Sprachen sind durchlässig geworden, der Alltag geprägt von gegenseitiger Einflussnahme. Und doch gibt es Wörter, die sich durchsetzen. Wörter, die für ein ganzes Lebensgefühl stehen.
Ob in Disentis, Pontresina, Davos oder Chur – wer das typische Bündner Wohlbefinden beschreiben will, sagt es ohne viele Worte. Kurz und knapp: Es ist «patschifig».