So etwas hat die Schweiz noch nie gesehen: Alle männlichen Abgeordneten des Kantonsparlaments wurden vom Waadtländer Generalstaatsanwalt als Zeugen vorgeladen. 92 Parlamentarier gaben sich bei der Staatsanwaltschaft die Klinke in die Hand. Um was es ging, blieb bis nach den Befragungen geheim.
Am Schluss bestätigte sich, was man in Journalisten- und Politikerinnenkreisen schon seit Tagen munkelte: Die Waadtländer Staatsanwälte wollten herausfinden, wer Mitte August der Zeitung «Le Temps» die grossen Linien eines zu diesem Zeitpunkt noch vertraulichen Berichts zugespielt hatte. In dem Bericht ging es um die in Teilen illegale Besteuerung von besonders wohlhabenden Steuerzahlern im Kanton Waadt. Wegen der Medienleaks hatte die Kantonsregierung Strafanzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung eingereicht.
Wer hat den heiklen Bericht an die Medien weitergegeben?
«Le Temps» schrieb, ihre Quelle sei «un député», ein Parlamentarier, und offenbar ist die Staatsanwaltschaft überzeugt, dass es sich beim Informanten aus dem Parlament tatsächlich um einen Mann handelte. Amtsgeheimnisverletzung wird keinem Parlamentarier vorgeworfen. Die Strafuntersuchung richtet sich gegen jene Person, welche die Informationen über den heiklen Bericht einem der Abgeordneten gesteckt hat.
Was die Waadtländer Staatsanwälte bei den rund zwanzigminütigen Befragungen herausbekommen haben, das wollte der Generalstaatsanwalt heute nicht verraten. Im Communiqué, das er gegen Abend verschicken liess, heisst es lediglich, er werde zu gegebener Zeit informieren.
Medienleaks sind nicht der eigentliche Skandal
Mit der Befragung von 92 Abgeordneten an einem Tag ist das, was man in der Waadt die Affäre Dittli nennt, um eine skurrile Volte reicher. Allerdings sind die von der Staatsanwaltschaft heute untersuchten Medienleaks vergleichsweise eine Petitesse, eine Kleinigkeit.
Wirklich brisant ist das, was im durchgesickerten Bericht drin stand. François Paychère, der ehemalige Präsident des Genfer Rechnungshofs, zeigte darin, dass eine spezielle Steuerbremse für besonders Wohlhabende nicht gesetzesgetreu umgesetzt wurde. Tausend bis viertausend reiche Steuerzahler mussten während zwölf Jahren, von 2009 bis 2021, zu wenig Steuern zahlen. Und – besonders stossend – die Waadtländer Steuerverwaltung wusste schon seit 2011, dass sie das Gesetz falsch anwendete, und unternahm zehn Jahre lang nichts.
Riesige Steuerausfälle
Verantwortlich war in dieser Zeit noch nicht die inzwischen als Finanzdirektorin abgesetzte Mitte-Politikerin Valérie Dittli, sondern ihr mächtiger Vorgänger Pascal Broulis, heute FDP-Ständerat.
Wieviel Geld dem Kanton Waadt durch die fehlerhafte Anwendung der Steuergesetze entgangen sind, ist noch nicht ganz klar. Es dürften aber hunderte Millionen Franken sein. Das ist der eigentliche Skandal.