In Genf ist wegen Kleidervorschriften an einigen Sekundarschulen ein Streit ausgebrochen. Für grossen Ärger sorgt bei den Jugendlichen das sogenannte «T-Shirt der Schande», das bei unpassender Bekleidung übergestreift werden muss.
Die höchste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler, kritisiert das T-Shirt als wenig sinnvolle Massnahme.
SRF News: Was sagen Sie zum sogenannten «T-Shirt der Schande» in Genf?
Dagmar Rösler: Die Jugendlichen wollen das überlange und übergrosse T-Shirt offensichtlich nicht anziehen. Ich habe Verständnis dafür. In meinen Augen werden Jugendliche mit solchen Massnahmen blossgestellt. Es ist eine wenig wertvolle pädagogische Massnahme. Andererseits gilt es für Jugendliche natürlich, Regeln zu beachten. Sicherlich gibt es andere Wege, solche Konflikte zu lösen.
Welche?
Man muss mit den Jugendlichen sprechen, immer wieder. Ihnen erklären, warum es gewisse Kleidervorschriften gibt – und zwar, ohne sie dabei blosszustellen. Die meisten Lehrer machen das.
In Genf beklagen vor allem Schülerinnen, das T-Shirt sei «erniedrigend», «sexistisch».
Mir ist nicht bekannt, warum und in welchen Fällen die Jugendlichen das T-Shirt anziehen mussten. Ich gehe aber davon aus, dass die Jugendlichen unterdessen bemerkt haben, dass es etwas bringt, wenn sie sich zur Wehr setzen. Ähnlich wie bei der Klimajugend. Ich empfinde die Massnahme nicht als erniedrigend oder sexistisch – ein Blossstellen ist es aber allemal.
Würden Sie raten, die Massnahme abzuschaffen?
Ich würde sicherlich das intensive Gespräch suchen. Wenn die Jugendlichen bereit sind, sich anders zu kleiden, würde ich es abschaffen.
Die Jugendlichen in Genf sind sehr emotional, aufgebracht.
Es ist sehr wichtig, was man in der Schule trägt. Alle haben Marken-Turnschuhe an. Bauchfreie T-Shirts sind modern. Aber bauch- und schulterfreie Kleidung ist in jeder Schule ein No-Go. Natürlich kann das zu Konflikten führen – insbesondere im urbanen Raum, wo Kleidung und die Ästhetik eine grössere Rolle spielt als auf dem Land. Für Lehrerinnen kann das belastend sein. Schulen müssen sich auf gewisse Regeln verständigen.
Wie erleben das die Lehrer?
Es gibt sehr unterschiedliche Kulturen an Schweizer Schulen. Gewisse Regeln gibt es aber an jeder Schule. Aus meiner Erfahrung halten sich die Schüler grundsätzlich gut an Regeln, aber es kommt immer wieder vor, dass einige ausbrechen und provozieren wollen.
Viele Schulen haben Kleidervorschriften.
Sprechen über die Kleidung, was angebracht ist und was nicht, gehört heute zum Schulalltag. Es ist die Verantwortung der Eltern, wie sie ihre Kinder zur Schule schicken. Lehrerinnen und Lehrer brauchen sehr viel Feingefühl, wenn es darum geht, unpassende Kleider anzusprechen. Aber wenn es Regeln gibt, ist es die Aufgabe der Lehrer, diese durchzusetzen.
In einem Positionspapier von 2016 schreibt der Lehrerverband, dass Dresscodes kontraproduktiv seien. Gleichzeitig sagen Sie, gewisse Regeln gebe es an allen Schulen. Ein Widerspruch?
Nein. Die wenigsten Schulen verfolgen solch blossstellende Massnahmen wie diese mit den T-Shirts. Ich habe zwar schon von anderen Schulen gehört, die das auch verfolgen, aber solche Massnahmen braucht es in der Regel nicht. Die Jugendlichen wissen, dass man sich in der Freizeit anders kleidet als in der Schule. Der Brennpunkt ist aber sicher die Sekundarstufe 1, da sich diese Jugendlichen stark von den Erwachsenen abheben wollen, eine schwierige Entwicklungsphase durchmachen. Aber wir brauchen keine schweizweit einheitliche Regelung. Wir brauchen Verständnis für die Jugendlichen und müssen konsequent das Gespräch suchen. Vielleicht müssen wir aber in den Richtlinien ergänzen, dass man keine blossstellenden Massnahmen wählen sollte.
Das Gespräch führte Nina Blaser.