Seit den 1970er Jahren verlieren die katholische und die evangelisch-reformierte Kirche kontinuierlich Mitglieder. Die Talfahrt geht weiter, das zeigt eine Untersuchung, welche die beiden Schweizer Landeskirchen beim privaten Forschungs- und Beratungsbüro Ecoplan in Auftrag gegeben haben.
Kaum noch junge, nur noch ältere Gläubige bleiben ihren Kirchen treu. Das Problem: Sterben die älteren Mitglieder weg, fehlen über die Jahre die jungen, die mit ihren steigenden Einkommen langfristig die Steuererträge sichern.
Dringender Sanierungsbedarf
Genau das erlebt derzeit die reformierte Kirchgemeinde Birmenstorf-Gebenstorf-Turgi im Kanton Aargau. Sie muss drei Kirchen finanzieren, die immer weniger Besucher haben.
Die Kirchen in Gebenstorf und Birmenstorf stehen unter Denkmalschutz. Nicht aber die Kirche in Turgi – die jüngste, in den Sechzigerjahren erbaut. Sie müsste dringend saniert werden, doch dafür fehlt das Geld: «Die Sanierung kostet etwa drei Millionen Franken. Wir müssten zwei Millionen Franken Fremdkapital aufnehmen und würden uns auf Jahrzehnte hinaus verschulden», sagt der Liegenschaftsverantwortliche Christoph Zehnder, «das können wir uns schlicht nicht leisten».
Kirchen werden mit weniger Geld leben müssen
Egal, ob katholisch oder reformiert, das Problem ist im Grundsatz dasselbe: Weniger Mitglieder bedeuten weniger finanzielle Mittel. «Bisher konnten die Folgen der Kirchenaustritte und sinkender Mitgliederzahlen durch Migrationseffekte, höhere Löhne der Steuerpflichtigen und steigende Kirchensteuern von Unternehmen weitgehend kompensiert werden, doch dieser positive Effekt dürfte ab 2030 vorbei sein», sagt Daniel Kosch, Generalsekretär der römisch-katholischen Zentralkonferenz und Experte für Kirchenfinanzen.
Beide Konfessionen würden dann nochmals weniger Erträge erwirtschaften als das bis anhin der Fall war, so Kosch. Und: «Die beiden Landeskirchen brauchen dringend eine Trendwende bei der Mitgliederentwicklung, möchte man diese Entwicklung brechen.»
Landeskirchen haben immer weniger Mitglieder
Konfessionslose nehmen zu
Doch eine Trendwende ist nicht in Sicht. Gemäss Ecoplan-Studie schwindet nicht nur die Akzeptanz der beiden Landeskirchen, immer mehr Menschen wollen konfessionsfrei leben. In den nächsten zwei bis drei Jahren wird erstmals die Hälfte aller Einwohnerinnen und Einwohner keiner der beiden grossen Landeskirchen mehr angehören.
Folgenlos bleibt das nicht: In den nächsten beiden Jahrzehnten werden gemäss den Modellrechnungen von Ecoplan die Katholiken rund 100 Millionen weniger pro Jahr einnehmen als heute, bei den Reformierten könnten sogar 150 Millionen Franken weniger zu Buche schlagen. In den letztmals erhobenen Zahlen aus dem Jahr 2017 hatten die Katholiken insgesamt rund 860 Millionen Franken, die Reformierten 750 Millionen Franken pro Jahr zu Verfügung.
Die Kirche in Turgi hat an einem durchschnittlichen Sonntag etwa 15 bis 30 Besucher. Ausgelegt ist sie für 200 Gläubige. Die Kirchgemeinde Birmenstorf-Gebenstorf-Turgi sucht deshalb einen Investor, der die Liegenschaft übernehmen oder umnutzen könnte. «Einen kleinen Diakonieraum würde uns völlig reichen», sagt Liegenschaftsverwalter Christoph Züricher. Gelänge dies nicht, müsste die Kirche in Turgi wohl oder übel abgerissen werden.
Kirchen werden verkauft oder vermietet
Die Suche nach Investoren für nicht mehr finanzierbare Kirchen komme oft vor, sagt Johannes Stückelberger, Professor für Religions- und Kirchenästhetik an der Universität Bern.
Stückelberger hat eine Datenbank erstellt, welche die verschiedenen Kirchenumnutzungen der vergangenen 25 Jahren dokumentiert: «Abriss ist eine Strategie, die sehr selten zu beobachten ist, auch weil viele Kirchen unter Denkmalschutz stehen. Oft werden Kirchen verkauft oder vermietet. Auch Teilvermietungen gibt es, also das Modell, dass die Kirche Besitzerin bleibt, aber Teile der Räume abgibt», erläutert Stückelberger.
Auch in der katholischen Kirche St. Othmar in St. Gallen besuchen immer weniger Gläubige die Gottesdienste. Die Kirchgemeinde hat in den vergangenen zehn Jahren über 4000 Mitglieder verloren. «Das sind gesellschaftliche Entwicklungen, Megatrends, die sich nicht mit Sofortmassnahmen aufhalten lassen», erklärt Armin Bossart, Präsident der Kirchgemeinde St. Gallen.
Redimensionierung «ohne Tabus und Denkverbote»
Die Kirchgemeinde, zu der auch die Kirche St. Othmar gehört, verwaltet 35 Liegenschaften – davon 16 Kirchen und Kapellen. Derzeit überprüft die Kirchgemeinde, welche dieser Liegenschaften längerfristig noch benötigt werden – «ohne Tabus und Denkverbote», wie Bossart sagt.
Die Mitglieder dürfen Vorschläge machen. Im Herbst wird dann über diese abgestimmt. Dass die Pfarrei St. Othmar – wie wohl auch noch andere – vor einer Redimensionierung steht, dürfte so sicher sein wie das Amen in der Kirche. Anders als die reformierte Kirche in Turgi steht die Kirche St. Othmar unter Denkmalschutz – ein Abriss ist hier definitiv keine Option.