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Tote während Corona-Pandemie Übersterblichkeit in Coronazeiten: Wer ist woran gestorben?

Für eine Bilanz ist es zu früh. Doch die Zahlen aus den Jahren 2020 und 2021 liefern aufschlussreiche Erkenntnisse.

Seit das Coronavirus in der Schweiz angekommen ist, verzeichnet das Land eine Übersterblichkeit. Eine Zahl an Verstorbenen, die über dem liegt, was man aus Erfahrung erwarten würde. Erfasst wird die Übersterblichkeit beim Bundesamt für Statistik (BFS), Woche für Woche. Der Epidemiologe Rolf Weitkunat hat dort die Erfassung der Übersterblichkeit unter sich: «Im März und April 2020 gab es insgesamt etwa 1600 Todesfälle, die wir nicht erwartet hatten. Also eine Übersterblichkeit in dieser Periode.»

Das war die erste Coronawelle. Während sie durchlief, zählte Weitkunat mit, wie viel mehr Tote es insgesamt gab. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) zählte zeitgleich, wie viele Menschen ihm als Corona-Tote gemeldet wurden. Weitkunat stellte fest, dass die Zahlen nicht deckungsgleich sind: «Die vom BAG genannten Zahlen waren etwa um 20 Prozent niedriger.»

Totenscheine schliessen «Erklärlücke»

Woran waren diese Menschen gestorben, die mehr starben als sonst, aber nicht in den offiziellen Corona-Statistiken auftauchten? Eine Erklärlücke, die das BFS schliessen konnte: Die dortigen Fachleute werten nachträglich jeden einzelnen Totenschein aus. Demnach geht die gesamte Übersterblichkeit von März und April 2020 auf Corona-Infektionen zurück.

Für die zweite Übersterblichkeitswelle, Ende Oktober 2020 bis Ende Januar 2021, gilt: Es waren rund 8400 Tote mehr als sonst – die Zahl der Corona-Toten, die das BAG gezählt hat, liegt wiederum etwa 20 Prozent tiefer. Bis das BFS die Todesursachen für diese 20 Prozent nachgeprüft hat, wird es dauern. Aber: «Dann werden wir sehen, wo diese Übersterblichkeit herkommt und woran die Leute, die in dieser Zeit gestorben sind, gestorben sind. Das dürfen sie von uns erwarten», sagt Weitkunat.

Was löste dritte Übersterblichkeitswelle aus?

Jetzt in der dritten Übersterblichkeitswelle von Mitte November 2021 bis Anfang Januar 2022 zeigt sich ein anderes Bild. Die Erklärlücke ist grösser geworden: «Von der Grössenordnung haben wir doppelt so viel Übersterblichkeit, wie das BAG Covid-19-Todesfälle über sein Meldesystem erfasst hat.» Einige hundert Menschen mehr als sonst, die gestorben sind – deren Tod bisher aber nicht Corona zugeschrieben wird.

Das gibt Raum für Spekulationen. Es war die Zeit, zu der die Booster-Kampagne gestartet ist. Könnte der Booster der Grund sein? Christoph Küng ist bei der schweizerischen Zulassungsbehörde Swissmedic für das Aufspüren von Nebenwirkungen zuständig. Er sagt: «Bis jetzt haben wir keine Hinweise, dass es da einen Zusammenhang gibt. Weder aus der Schweiz noch aus Ländern, die mit der Impfkampagne weiter fortgeschritten sind als wir.»

Impfdosis wird vorbereitet
Legende: Hinweise für einen Zusammenhang zwischen Übersterblichkeit und Booster-Kampagne gibt es weder in der Schweiz noch im Ausland. Keystone

Das System, mit dem Küng und seine Leute nach Zusammenhängen suchen, ist ziemlich sensibel und detaillierter als in anderen Ländern. Sie bräuchten, um eine neue, relevante Nebenwirkung zu erkennen, nur wenige Hinweise: «Wenn wir zwei, drei gut dokumentierte und vollständige Meldungen erhalten, kann das manchmal schon reichen, um ein neues Risiko zu identifizieren. Zumindest werden wir hellhörig und können genauer nachhaken und auf ein mögliches Risiko achten.» Und bei gemeldeten Todesfällen schauten sie noch einmal genauer hin.

Höhere Dunkelziffer an Corona-Toten?

Welche Erklärung kommt sonst infrage? Jan Fehr, Impfexperte der Universität Zürich, war von Beginn weg an der Pandemiebewältigung des Kantons Zürichs beteiligt. Er hält es für möglich, dass die schlechtere medizinische Behandlung wegen überlasteter Spitäler und Ärzte während der Pandemie eine Erklärung liefern könnte. «Ich denke, der Effekt ist real. Welche Tragweite das hat, kann man ganz schwer abschätzen. Wir brauchen Abstand und Zeit, um das gut analysieren zu können. Aber es ist eine Realität, die man nicht wegdiskutieren kann.»

Konkret zum Beispiel Herz- oder Krebskranke, die nicht gut genug medizinisch betreut wurden und verfrüht starben – und die jetzt in der Statistik sichtbar werden. «Zudem muss man noch einmal hinschauen, ob es nicht trotzdem Covid zuzuschreiben ist», sagt Fehr. Die laufende Erfassung der Gesundheitsdaten in der Schweiz sei aktuell nicht ideal aufgestellt für eine so dynamische Situation, wie die jetzige. Möglich also, dass gerade jetzt, wo die Infektions-Dunkelziffer hoch ist wie nie, auch die Dunkelziffer bei den Corona-Toten höher ist als in den Wellen zuvor.

Echo der Zeit, 04.02.2022, 18 Uhr

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