Vor 31 Jahren fand eine der denkwürdigsten und folgenreichsten Bundesratssitzungen der letzten Jahrzehnte statt. Der Bundesrat traf sich am 18. und 19. Oktober zu einer Klausur in Gerzensee bei Bern und diskutierte eigentlich über eine Staatsleitungsreform. Doch er besprach damals auch das Verhältnis zu Europa. Man entschied sich nach zähen Verhandlungen den Beitritt in den Europäischen Währungsraum (EWR) zu Abstimmung zu bringen – allerdings nur als Zwischenetappe zum strategischen Ziel, der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) und späteren Europäischen Union (EU) beizutreten.
Arnold Koller, der damalige Bundesrat der CVP, sagt rückblickend zur Bundesratssitzung in Gerzensee: «Der Entscheid, den man damals getroffen hat: Ja zum EWR mit Perspektive auf EU-Beitritt war der kleinste gemeinsame Nenner.» Es war der Minimalkonsens bei einem so weitreichenden Entscheid.
Verheddert in der Souveränitätsfrage
Um das zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass der Bundesrat mit den Verhandlungen über den EWR haderte; und zwar aus einem zentralen Grund. Obwohl er mit dem Inhalt des EWR-Vertrags sehr zufrieden gewesen sei, erzählt Arnold Koller: «Wir waren uns weitgehend einig. Aber der Bundesrat hat sich je länger je mehr in der Souveränitätsfrage verheddert.»
Wir haben einen mutigen und visionären Entscheid getroffen, es war ein Entscheid im Interesse unseres Landes.
Die Souveränitätsfrage spaltete den Bundesrat. Die Schweiz hätte mit dem EWR zwar weitgehenden Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten, aber sie hätte bei neuen Gesetzen nicht mitentscheiden können. Manche Bundesratsmitglieder störten sich an diesem Souveränitätsdefizit, sodass sie den EWR am liebsten abgelehnt hätten. Daher entschied sich der Bundesrat für die Flucht nach vorne: Ja zum EWR, aber mit dem strategischen Ziel, der EU beizutreten.
Im Bundesrat sass damals auch SVP-Mann Adolf Ogi. Er sagt zum damaligen Entscheid: «Wir haben einen mutigen und visionären Entscheid getroffen, es war ein Entscheid im Interesse unseres Landes.»
Während Koller den kleinsten gemeinsamen Nenner betont, fokussiert Ogi auf das gemeinsame Ziel: «Es ist wichtig, dass wir 1991 den strategischen Konsens gehabt haben, dass der EWR der erste Schritt war und aufgrund der Situation damals vor 30 Jahren, dass der zweite Schritt die Mitgliedschaft war. Das war unser Ziel.»
Isoliert als EWR-Mitglied
Wichtig für Ogi ist die historische Situation damals: Noch während den EWR-Verhandlungen entschieden Österreich und Schweden, den EWR-Zug zu verlassen und stattdessen der EU beizutreten. Und mit dem Fall der Berliner Mauer waren plötzlich auch ganz viele osteuropäische Länder potenzielle Beitrittskandidaten.
In dieser turbulenten Situation hatte der Bundesrat Angst, dass die Schweiz selbst als EWR-Mitglied plötzlich allein dastehen könnte. Auch deshalb fiel der strategische Entscheid, der ein halbes Jahr später konkreter wurde. Im Mai 1992 entschied sich der Bundesrat für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Arnold Koller sagt heute dazu: «Ich erinnere mich, wie ich aus dem Bundesratszimmer in mein Büro im Departement gewechselt habe. Da ist gewissermassen eine Welt zusammengebrochen.»
Dass man das Denken quasi überspringt und ohne Abwägung der Vor- und Nachteile ein Beitrittsgesuch stellt, war für mich ganz klar ein Bauchentscheid.
Für ihn sei klar gewesen, dass damit die EWR-Abstimmung verloren sei. Koller betont, es sei auch ein völlig überstürzter Entscheid gewesen: «Dass man das Denken quasi überspringt und ohne Abwägung der Vor- und Nachteile ein Beitrittsgesuch stellt, war für mich ganz klar ein Bauchentscheid.»
Bundespräsident René Felber war krank
Adolf Ogi hingegen betont zunächst einen weiteren, menschlichen Aspekt: «Man muss auch sehen, dass Bundespräsident Felber schwer krank war. Wir wussten nicht, ob er wieder kommt. Es war sein Wunsch, bevor er ins Spital ging, dass wir ein Beitrittgesuch stellen.»
Die Krankheit von Felber ist das eine – trotzdem muss sich vor allem Ogi dafür rechtfertigen, dass er beim 4:3-Entscheid des Bundesrates den Ausschlag gegeben haben soll. Ogi selbst will das so nicht akzeptieren: «Ich bin nur einer von sieben. Einer der SP war dafür, einer dagegen. Einer der FDP war dafür, einer dagegen. Einer der CVP war dafür, einer dagegen. Da kann ich nichts dafür. Ich habe im Rahmen des strategischen Entscheids von 1991 ja gesagt.»
Ogi sieht die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen als logische Konsequenz des strategischen Entscheids von Gerzensee und sagt: «Das ist ehrliche und korrekte Politik und ich würde es heute genau gleich machen.»
Für viele gingen diese Entscheide allerdings zu weit. Kritiker sehen in diesen auch einen zentralen Grund, warum das Volk im Dezember 1992 den EWR-Vertrag ablehnte.