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Von den Taliban entführt Ex-Geiseln: «Wir hatten Angst, ein Kollateralschaden zu werden»

Die zwei Schweizer Ex-Geiseln der Taliban sprechen über ihre achteinhalb Monate Geiselhaft, die ständige Angst und den neuen Film.

Statt mit Freude über ihre neu gewonnene Freiheit dank einer lebensgefährlichen Flucht wurden Daniela Widmer und David Och im März 2012 mit Spott und Häme übergossen.

Der Tenor damals: Die Fluchtgeschichte sei bestimmt erfunden, um eine Lösegeldzahlung zu kaschieren. An ihrer Entführung seien sie selbst schuld. Wie dumm müsse man sein, überhaupt durch Pakistan zu fahren.

David Och und Daniela Widmer steigen am Flughafen Zürich aus einem Polizeibus aus.
Legende: Am 17. März 2012 landen David Och und Daniela Widmer am Flughafen Zürich. Reuters

Knapp zehn Jahre danach stellen sich die beiden wieder der Öffentlichkeit – obwohl sie eigentlich lieber ihre inzwischen neu orientierten Leben in Ruhe weiterführen würden. Grund für die erneute Aufmerksamkeit: Am Donnerstag, 28. Oktober 2021, startete in den Kinos die Verfilmung ihrer Geschichte.

Neu im Kino: «Und morgen seid ihr tot»

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Der Film «Und morgen seid ihr tot» von Regisseur Michael Steiner war der Eröffnungsfilm des Zurich Film Festivals im September und feierte damals Weltpremiere. Seit dem 28. Oktober läuft er in den Schweizer Kinos.

Die Verfilmung basiert auf den Aufzeichnungen von Daniela Widmer und David Och, welche die beiden als gleichnamiges Buch beim Dumont-Verlag 2013 veröffentlicht haben. Die SRG hat den Film mitproduziert.

Daniela Widmer und David Och bei der Eröffnung des Festivals
Legende: Daniela Widmer und David Och bei der Eröffnung des 17. Zurich Film Festivals. Keystone

Die Kritik und der noch immer vorherrschende Unglaube ihrer Geschichte gegenüber reisst nicht ab – und war auch für Regisseur Michael Steiner ein Grund für die Verfilmung.

Michael Steiner
Legende: Michael Steiner, Regisseur des Films «Und morgen seid ihr tot», am Zurich Film Festival. Keystone

«Mir geht es darum, wenn man eine Schlagzeile liest, dass man tiefer dahinter blickt und sich überlegt, was dieses Schicksal für die Menschen bedeutet. Und wenn Meinungen vorschnell gemacht werden, dass man diese nicht vorschnell auf die Leute anwendet», sagte Steiner im Kulturplatz von SRF. 

Die eigene Geschichte – aus anderer Perspektive

In einem ausführlichen Interview mit SRF haben sich Daniela Widmer und David Och nun geäussert.

Auf die Frage, ob sie sich im Film von Michael Steiner wiedererkennen, sagt David Och: «Ich erkenne die Geschichte wieder. Es ist sicher emotional für mich, das zu schauen, weil es so nah ist, weil es das ist, was ich erlebt habe.»

Ich kann diesen Schauspielern einen Teil der Last abgeben.
Autor: Daniela Widmer Ehemalige Geisel

Daniela Widmer wiederum sagt, der Film biete ihr eine andere Perspektive, weil jemand ihre Rolle spiele. «Ein Teil der Geschichte ist jetzt im Film und ich kann diesen Schauspielern einen Teil der Last abgeben.» 

«Film ist nah am Erlebten»

Der Film sei sehr nah an dem, was sie erlebt hätten, bilanzieren die ehemaligen Geiseln. David Och sagt: «Die wichtigsten Punkte sind darin zusammengefasst, aber ganz viel Wartezeit und ganz viele schwierige Momente sind sicher schwierig in einem Film dazustellen. Wie kann man in einem Film warten? Warten und Angst haben.»

Daniela Widmer sagt, Regisseur Michael Steiner habe sich viel Zeit genommen für die Recherche und Gespräche mit ihnen beiden, um möglichst nah an die Realität zu gelangen. «Wir sind zufrieden mit dem Film, er ist gelungen und wir können dahinterstehen.»

Das umstrittene Lösegeld-Angebot

Während Widmer und Och ab Juli 2011 in der Gewalt der pakistanischen Taliban sind, beginnen diese, Forderungen zu stellen: Lösegeldforderungen und die Freilassung von inhaftierten Kampfgenossen in Pakistan. Die pakistanischen Taliban sind mit den afghanischen verbündet, sie verüben immer auch Anschläge in Pakistan.

Die beiden bestätigten gegenüber «10 vor 10» im September, dass die Taliban ihnen sagten, ein Angebot über 1.25 Millionen Dollar aus der Schweiz erhalten zu haben – ob dem wirklich so sei, könnten sie nicht beurteilen, so Widmer und Och.

David Och und Daniela Widmer winken
Legende: Am 15. März 2012 erreichen David Och und Daniela Widmer in Pakistan den Flughafen von Islamabad. Keystone

Recherchen von SRF ergaben unabhängig davon, dass die Schweizer Behörden offenbar tatsächlich eine Lösegeldzahlung vorbereitet hatten – die aber hinfällig wurde, nachdem Widmer und Och die Flucht gelungen war. Der damalige Aussenminister Didier Burkhalter betonte, es sei kein Lösegeld geflossen. 

Flucht hat belastenden Fragen ein Ende bereitet

Für die beiden Schweizer Geiseln war klar: Über ihr Leben wird verhandelt. Darüber hätten sie sich viele Gedanken gemacht, sagen sie im Interview. Kommen ihretwegen Terroristen frei, die wieder Anschläge verüben könnten? Erhält eine Terrororganisation neue finanzielle Mittel?

Screenshot mit den beiden Geiseln.
Legende: Screenshot aus einem Video mit den beiden Geiseln, das die Taliban am 27. Dezember 2011 veröffentlicht haben. Keystone

Daniela Widmer sagt dazu: «Es geht auch darum: Sind unsere zwei Menschenleben mehrere Gefangene wert? Warum ist unser Leben mehr wert als pakistanisches Leben? Wir haben uns beim Geld auch überlegt: Sind wir später verantwortlich für Terroranschläge, bei denen vielleicht hundert Menschen sterben?»

Mit solchen Gedanken später in der Schweiz vielleicht weiterzuleben, habe sie stark beschäftigt. Deshalb sei die Flucht auch eine Erlösung von einer grossen Last gewesen.

Vormarsch der Taliban hat sich abgezeichnet

Die beiden Schweizer waren von den pakistanischen Taliban in den Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan als Geiseln gehalten worden. Sie hätten klar festgestellt, dass ihre Entführer schon damals nach Afghanistan gereist seien und sich am Kampf gegen die US-geführten Truppen beteiligt hätten, sagen Widmer und Och.

Pakistanische und afghanische Taliban seien verbündet, die inzwischen vollzogene Machtübernahme sei schon damals das erklärte Ziel gewesen. «Das war immer ihr grosses Ziel. Und tatsächlich haben sie es nach 20 Jahren erreicht und sind in Kabul einmarschiert», sagt Daniela Widmer.

Seltener Einblick ins Leben der Region

Durch ihre unfreiwillige Zeit bei den Taliban haben die zwei Schweizer einen seltenen Einblick in eine Region erhalten, die für Aussenstehende abgeschottet bleibt. Das Leben in den Stammesgebieten sei aus hiesiger Perspektive kaum vorstellbar, erzählen Widmer und Och.

Im Vordergrund stehe oft das Organisieren von Nahrung sowie das Suchen von Holz für ein Feuer. «Und man darf nicht vergessen: Das ist ein Kriegsgebiet. Es hat Drohnen [der USA, die damit angebliche Terroristen verfolgen / Anm. d. Red.] am Himmel, es gibt Scharmützel mit dem pakistanischen Militär», erzählt David Och. Ganze Generationen würden im Krieg aufwachsen.

Gerade die Drohnen, von denen aus teils Raketen auf mögliche Terroristen gefeuert werden, seien für die ganze Bevölkerung eine grosse Belastung – einer Bevölkerung, die nicht ausschliesslich aus Taliban bestehe, so Daniela Widmer.

Zudem erhielten Kinder und Jugendliche kaum Bildung, die meisten könnten nicht Lesen, hätten keinen Zugang zu anderen Informationen. So sei auch ein Teil der Radikalisierung zu erklären.

US-Drohnen werden zur Todesgefahr

Die Drohnen am Himmel seien für sie zunehmend zu einer Quelle der Angst geworden. «Wir hatten Angst, ein Kollateralschaden zu werden. Und deshalb auch Bedenken, ob unsere Familien jemals herausfinden würden, wie wir gestorben wären», sagt Daniela Widmer.

Die Drohnen, eine permanente Bedrohung – auch deshalb, weil sie unmittelbar mit möglichen Zielpersonen zusammenleben mussten und teils auch von Führungspersonen der Taliban Besuch erhielten.

Die Entführer haben uns am Anfang am meisten eingeschüchtert.
Autor: David Och Ehemalige Geisel

Hinzu kamen mangelnde Hygiene und Gesundheitsprobleme wie Malaria, die zu tödlichen Bedrohungen wurden.

«Am Anfang war es so, dass uns die Entführer am meisten eingeschüchtert haben, weil man nie weiss, ob man am nächsten Morgen hingerichtet wird. Erst später, nach der Verschleppung, haben wir diese Drohnen kennengelernt. Und es gab Drohnenangriffe, ein bis zweimal pro Woche», erzählt David Och. Da sei diese Angst immer präsenter geworden.

Mitte März 2012 fassen Widmer und Och den Entschluss, eine Flucht zu wagen. Sie können aus einem ländlichen Gehöft flüchten und gelangen nachts zu einem nahe gelegenen Fort der pakistanischen Armee. Diese lebensgefährliche Flucht ist in Steiners Film nervenaufreibend nachgezeichnet – ein Happy End, das für beide dann aber getrübt wird, als nach ihrer Rückkehr in die Schweiz Spott und Häme einsetzen.

 

Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 27.10.2021, 17.10 Uhr

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