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Viele Kandidierende Listenflut bringt den Parteien nicht den erhofften Effekt

Immer mehr Listen und Kandidierende sollen den Parteien mehr Sitze bringen. Eine Auswertung zeigt jetzt erstmals: Die Taktik geht nicht auf.

Den Trend gibt es schon länger – und er hält auch 2023 ungebrochen an: Die Parteien treten in den Kantonen nicht nur mit einer Liste an, sondern mit mehreren. Nach oben scheinen dabei den Parteien keine Grenzen gesetzt. So treten etwa die Grünliberalen im Aargau mit acht verschiedenen Listen an, die Mitte im Aargau mit zehn und im Thurgau sogar mit elf. Dabei steigen die Parteien jeweils mit einer Hauptliste ins Rennen, auf der die Bisherigen und die profilierten Kandidierenden antreten, die anderen Listen sind, je nach Wording, Neben-, Zusatz- oder Unterstützungslisten.

Verglichen mit vor vier Jahren sind es dieses Jahr wieder markant mehr Listen. Am grössten ist der Zuwachs unter jenen Kantonen, in denen die Listen schon eingereicht werden mussten, im Aargau und im Thurgau.

Hier hat die Zahl der Listen gegenüber 2019 um 44 Prozent (AG) respektive gar um 56.5 Prozent (TG) zugenommen. Aber auch in fast allen anderen Kantonen zeigt die Entwicklung nach oben: zum Beispiel im Kanton Zürich mit plus 37.5 Prozent oder in Zug mit einer Zunahme von 36 Prozent.

Eine Liste für jede Region und jedes Alter

Diese Nebenlisten unterscheiden sich nach bestimmten Kriterien: nach dem Alter der Kandidierenden, dem beruflichen Hintergrund oder der Region, aus der die betreffenden Kandidierenden stammen. So findet sich im Aargau eine Liste Grünliberale «Seniorinnen und Senioren» oder eine Mitte-Liste «Für Brugg und das Zurzibiet» und im Thurgau buhlen sowohl die Liste «Die Mitte – Junge und Erfahrene Kreuzlingen-Bodensee» als die auch mit Namen «Grünliberale Bezirk Münchwilen» um die Gunst der Wählerinnen und Wähler.

Am Ende kommen die Stimmen für all diese Listen der Hauptliste zugute, denn mit dieser bilden alle zusammen eine sogenannte Unterlistenverbindung. Diese soll dafür sorgen, dass die Mitte im Kanton Thurgau oder die Grünliberalen im Aargau einen Sitz dazugewinnen. Die Annahme dahinter: Mehr Kandidierende führen zu mehr Stimmen. Denn jeder Name auf der Liste hat sein eigenes privates Umfeld und vergrössert so das Stimmenpotenzial einer Partei.

Unter dem Strich kein Gewinn

Eine Auswertung der Nationalratswahlen der letzten 35 Jahre, also von 1987 bis 2019, die das Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern exklusiv für SRF erstellt hat, zeigt jetzt aber erstmals: Diese Strategie hat für die Sitzverteilung keinen signifikanten Effekt.

In Mandaten zahlt es sich unter dem Strich nur in Einzelfällen aus.
Autor: Martina Flick Witzig Politologin Universität Bern

Politologin Martina Flick Witzig von der Universität Bern sagt: «Unser Modell zeigt, dass man zwar leicht an Wähleranteil zulegt, je mehr Listen man aufstellt. Aber in Mandaten zahlt es sich unter dem Stricht nur in Einzelfällen aus.» Konkret bringe jede zusätzliche Liste im Schnitt zwar etwa 0.2 Prozent mehr Wähleranteil. In den allermeisten Fällen reiche dieser Effekt aber nicht für einen Sitzgewinn.

Point of view: Eine Person füllt eine Wahlliste aus. Dahinter liegen dutzende Wahlflyer
Legende: Die Zahl der Listen und Kandidierenden nimmt zu – der Effekt für die Parteien ist aber gering. KEYSTONE/Anthony Anex

Dagegen seien Listenverbindungen über die Parteigrenzen hinweg (zum Beispiel Allianzen zwischen SVP und FDP in einigen Kantonen oder die traditionelle Verbindung zwischen SP und Grünen) erfolgversprechender. Allein bei den letzten Wahlen waren zwölf Sitzverschiebungen auf diese klassischen Listenverbindungen zurückzuführen.

Nachahmen führt zu «Wettrüsten» bei den Listen

Dass die Parteien trotzdem mit diesem «Wettrüsten» von Listen und Kandidierenden weitermachten, sei vor allem auf einen Nachahmungseffekt zurückzuführen, glaubt Flick Witzig. «Wenn es in einem Kanton, wie etwa dem Aargau 2019 für die CVP, scheinbar funktioniert hat, wollen es auch die anderen versuchen.»

Tatsächlich trat die CVP damals im Aargau mit vielen Listen an und holte einen zusätzlichen Sitz – ohne dass sich der direkte Zusammenhang beweisen liesse. Politologin Flick Witzig ist zudem überzeugt: Beliebig steigern lasse sich die Zahl der Listen nicht mehr. Einerseits sei es ein Aufwand für Parteien, immer mehr Kandidierende zu motivieren, sich in ein aussichtsloses Rennen zu begeben.

Andererseits sei es auch denkbar, dass die Listenflut kontraproduktiv werde für die Parteien: «Wenn dieser Trend weitergeht und die Wählenden sich durch immer mehr Listen ‹kämpfen› müssen, könnte sich bei ihnen irgendwann ein Sättigungseffekt einstellen», so die Politologin Martina Flick Witzig.

Wahlrechtsreformen bei kantonalen Wahlen

Unterdessen machen fast alle Parteien bei diesem Trend mit. Den «Trick» mit den vielen Listen, der also nachweislich fast immer nichts bringt ausser Mehraufwand, macht das aktuelle Nationalrat-Wahlgesetz möglich.

Bis jetzt blieben Versuche, dieses Wahlsystem anzupassen, erfolglos. Bei den Wahlen auf kantonaler Ebene allerdings gab es in den letzten Jahren viele Reformen. Unterdessen sind in mehr als der Hälfte der Kantone keine Listenverbindungen mehr möglich. Damit fallen dort auch die Unterlistenverbindungen weg und so der Anreiz für die Parteien, mit möglichst vielen Listen anzutreten.

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SRF 4 News, 14.08.2023, 20:00 Uhr

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