Wir schreiben das Jahr 1974. Der Eiserne Vorhang durchschneidet Europa, es herrscht Kalter Krieg. So richtig fröstelt es aber nicht alle. «I gseh würklich nid ii, wieso i die 17 Wuche mues mache», bernert der junge Mann ins Mikrofon der «Schweizer Filmwochenschau».
Aber es hilft alles nichts. Am Militärdienst führt (noch) kein Weg vorbei. Wer verweigert, dem droht Gefängnis. Der namenlose Rekrut gibt sich geschlagen. «Guet, i bi de Tschumpu hie und mache mys Züüg, aber derzue istelle wird i mi nie chönne.»
Kameraschwenk zu den Rekruten im Massenschlag. Verwuschelte Haare, bedröppelte Blicke, Flaum an den Backen. «Junge Schweizer …», seufzt der Sprecher des Berichts. Und lässt die Worte wirken, während ein Rekrut schicksalsergeben seine Uniform fasst.
Dann fällt der Scharfrichter sein Urteil: «Bewaffnete Neutralität, Unabhängigkeit des Vaterlandes: Für diese Generation sind das keine Wertbegriffe mehr. Und ausgerechnet von diesen konsumverwöhnten Antiautoritären verlangt die Armee widerspruchslosen Gehorsam.»
Geistige Landesverteidigung, das Alpen-Reduit, der Bürger im Wehrkleid: Begriffe, die einst tief in die Schweizer Soldatenseele eingraviert waren, drohen zu verlottern. Zumindest in den Augen derjenigen, die noch mit den Gewissheiten von damals aufgewachsen waren.
Noch an der Expo 1964 in Lausanne präsentiert sich die Schweizer Armee in einem stachligen Pavillon. Drinnen flimmert der martialische Film «Wehrhafte Schweiz» über die Grossleinwand. Millionen von Besucherinnen und Besuchern verlassen den Betonigel wieder, wahlweise irritiert oder mit dem Messer zwischen den Zähnen.
Mit einem Effektivbestand von knapp 700'000 Armeeangehörigen gilt die Schweiz auch noch in den 1970-ern als Militärmacht in Europa. Aber eine junge Generation, getragen vom Geist der 68-er, hinterfragt die bis auf die Zähne bewaffnete Neutralität, den Drill und blinden Gehorsam.
Wo die Angst regiert
«Obwohl in der Schweiz seit Jahrzehnten ein rotes Feindbild aufgebaut wird, sehen 35 Prozent der 18- bis 30-Jährigen keinen Sinn mehr in der Armee», heisst es in Karl Saurers Dokumentarfilm «Ruhe». Das Schweizer Fernsehen verhindert seine Ausstrahlung im letzten Moment – aus Angst vor einer Empörungswelle.
Das aufrührerische Werk porträtiert die Armee als das «letzte Glied in der Kette schweizerischer Erziehungsmassnahmen»: «Hier regiert die Angst. Die Angst vor der Sanktion, die Angst, gesellschaftlich ausgeschlossen zu werden. Die meisten passen sich deswegen an.»
Lange Haare, weiche Knie?
Nur wenige stellen die Armee als Institution derart offen infrage. Für viele Junge wird sie aber zum Sinnbild einer verkrusteten Bürgerlichkeit. Das bleibt auch den Generälen und Politikern nicht verborgen. Gegen den Widerstand konservativer Kreise wird schliesslich eine Armeereform vorangetrieben.
Es isch e Schygganiererei, mi schysst ds Militär prinzipiell aa.
Der «Spiegel» berichtet 1971, wie die «herrenlos gewordene Schweizer Milizarmee» eine «Reihe urpreussischer Gewohnheiten verbannt» – darunter das «Putzen um des Putzens willen» oder «ausgedehnte Nachtübungen vor dem Urlaub». «Diese Konzessionen scheinen den derzeit verantwortlichen Landesverteidigern nötig, da der Wehrwille unter der Schweizer Jugend in den letzten Jahren rapid abnahm», so das deutsche Nachrichtenmagazin.
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Bild 1 von 5. Unter anderem wird die «Achtungsstellung als persönliche Drillübung» abgeschafft, und die Haare der Rekruten dürfen künftig bis zum Uniformkragen reichen, «sofern sie auch unter schwierigen Verhältnissen sauber gehalten werden können.» Bild: Aushebung 1970. Bildquelle: Keystone/STR.
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Bild 2 von 5. Erheiterung auf Redaktion der Photopress AG: Die Bildagentur beliefert die Zeitungen mit einem «manipulierten Aprilscherz» und kommentiert: «Rekruten dürfen ihr Haar jetzt schulterlang tragen. Steife Krawatte und Bürstenschritt gehören der Vergangenheit an; praktisch und modisch zugleich sind die neuen Ausgangstenue-Vorschriften. Bildquelle: Keystone/STR.
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Bild 3 von 5. Die NZZ amüsiert sich über den «Haar-Erlass»: «Wenn die ganze Armee sich die Haare wachsen lässt, wird uns schliesslich ein potenzieller Feind nicht mehr mit Granaten bewerfen, sondern mit Erdnüsschen und Rüben füttern.» Bild: Armeekritische Demo in Bern, 1969. Bildquelle: Keystone/STR.
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Bild 4 von 5. Der Finger auf dem Abzug, den Feind im Blick: Paul Chaudet, der frühere Chef des Militärdepartements, fordert zwar noch, dass es keine «Konzessionen an die Regeln der Disziplin» geben dürfe. Die Worte des alt- Bundesrats verhallen. Bildquelle: Keystone/STR.
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Bild 5 von 5. In den 1970er-Jahren klang bereits eine Armeekritik an, die bald schon weitere Kreise der Gesellschaft erreichen sollte. Bild: Das Abstimmungsplakat der Armeeabschaffungsinitiative von 1989, die beachtliche 35.6 Prozent Ja-Stimmen holte. Bildquelle: Schweizerisches Sozialarchiv.
Die Armee trennt sich von einigen alten Zöpfen, in Begeisterungsstürme verfallen die Wehrpflichtigen trotzdem nicht. Im «Bericht vor 8», dem Regionalmagazin des Schweizer Fernsehens, liefern Rekruten Einblicke, wie es sich unter dem neuen Regime lebt. Die Bilanz fällt gemischt aus.
«Es isch e Schygganiererei, mi schysst ds Militär prinzipiell aa», klagt der eine. Der nächste meint versöhnlich: «Me het eigentlich vil Schlimmers ghört als dass es wirklich gsi isch.» Und dieser junge Mann mag sich nicht mit Systemkritik aufhalten. «Es isch scho no sträng, me gspürts e chly i de Wade», sagt er in die Kamera.
Bei manchen hinterlässt der Dienst am Vaterland nur ein leichtes Zwicken. Bei anderen ist der Schmerz ausgeprägter. Und zwar damals wie heute: Laut einer aktuellen Umfrage der Sonntagszeitung wären nur 41 Prozent der Schweizer bereit, ihr Land im Kriegsfall zu verteidigen.