Wir teilen uns zunehmend Raum mit den Grossraubtieren – das löst gemischte Gefühle aus: Freude, Faszination, Verunsicherung, Angst. Obwohl der Wolf schon länger wieder in der Schweiz präsent ist und sich manche Tiere in die Nähe von Menschen wagen, ist die Wahrscheinlichkeit nach wie vor verschwindend klein, ihnen zu begegnen.
Helen Rhyner hat es erlebt. Die 32-jährige Landwirtin und Betreiberin einer Après-Ski-Bar wohnt in Elm im Kanton Glarus auf einem Bauernhof, wo sich das unfreiwillige Aufeinandertreffen ereignet hat.
Im Januar 2025 ist sie mit Besuch auf dem Hof unterwegs, während ihr vierjähriger Sohn in einiger Entfernung an einem Hang am Spielen ist. Plötzlich entdeckt Rhyner zwei Wölfe, die nebeneinander der Strasse folgen, die am Hof vorbeiführt. «Es war kurz vor Mittag», berichtet Rhyner. Doch es bleibt nicht bei der Sichtung: Die Raubtiere nähern sich ihrem spielenden Kind.
«Wir sind sofort losgerannt», erzählt Rhyner. Sie schreit laut, um die Wölfe zu vertreiben.
Vielleicht hat der Kleine beim Wolf den Jagdtrieb ausgelöst.
Auch ihr Sohn erschrickt, läuft seiner Mutter entgegen. Dabei sei ihm der eine Wolf nachgerannt, erinnert sich Rhyner: «Vielleicht hat der Kleine bei ihm den Jagdtrieb ausgelöst.» Erst als sie ihren Sohn in den Armen hielt, hätten die Wölfe rechtsumkehrt gemacht: «Man ist der Situation ausgeliefert. Man weiss ja nicht, wie der Wolf reagiert.»
Ein Schreckmoment mit Folgen
Auch Monate später rede der Vierjährige noch vom Wolf, der ihn angeschaut habe. Dass ihm dieses eine Tier noch mal so nahe kommt, ist jedoch ausgeschlossen: Ein paar Tage nach dem Ereignis wird einer der beiden Wölfe von der Glarner Wildhut erlegt.
Der Abschuss ist bewilligt – auch aufgrund der Tatsache, dass das Tier aktives Interesse am Kind gezeigt habe, bestätigt Christoph Jäggi vom Glarner Amt für Fischerei und Jagd. Die Begegnung und der Abschuss des Wolfs lösen ein mediales Echo und einige Diskussionen aus, zum Beispiel darüber, wie gefährlich Wölfe für den Menschen wirklich sind.
Was die Öffentlichkeit nicht mehr mitbekommt: Helen Rhyner erhält anonyme Drohanrufe und Briefe von Wolfsfreunden und -schützerinnen. Das habe sie im Nachgang fast mehr beschäftigt als die Wolfsbegegnung an sich, erzählt sie: «Wir wollen dem Wolf nichts Schlechtes. Aber ich frage mich, wie viel nebeneinander Platz hat. Alpwirtschaft, Tourismus, Wölfe – geht alles miteinander?»
Wolfsangriffe auf Menschen sehr selten
Diese Frage stellt sich Naturfotograf Peter Dettling (52) nicht: «Ich bin Teil der Natur, genau wie der Wolf auch.» Er wünscht sich, dass Wolf und Mensch neben- und miteinander leben können.
Fakt ist: Weltweit kommt es selten zu Angriffen auf Menschen durch den Wolf, in der Schweiz ist seit seiner Rückkehr 1995 kein Angriff dokumentiert. Ausgeschlossen ist es aber nicht: In den Niederlanden kam es gemäss Medienberichten beispielsweise erst vor Kurzem zu einem Vorfall mit einem sechsjährigen Jungen. Der Wolf habe zuvor auffälliges Verhalten gezeigt.
Im Gegensatz zu Bäuerin Rhyner sucht Filmemacher und Buchautor Dettling seit Jahrzehnten die Begegnung mit frei lebenden Wölfen und ist dafür sogar nach Kanada gezogen. Seine Augen leuchten, wenn er sich an das erste Aufeinandertreffen zurückerinnert.
Plötzlich steht ein weisser Wolf direkt vor mir.
«Es war in den Rocky Mountains. Plötzlich steht ein weisser Wolf direkt vor mir. Keine vier Meter entfernt ist er an mir vorbeigelaufen.» Kurz darauf seien zehn weitere Tiere aufgetaucht, ein ganzes Rudel. Angst verspürt Dettling nur für einen kurzen Moment: «Dann habe ich die Wölfe angeschaut und wurde ganz ruhig.»
Auch in Dettlings Heimat Sedrun, wo er heute wieder lebt, sucht er mit der Kamera nach frei lebenden Wölfen und ist dafür teils monatelang täglich unterwegs: «Man kann viel von Wölfen lernen, wenn man sie beobachtet. Ich habe durch sie mich selbst besser kennengelernt.»