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Serie «Zuwanderung Schweiz» – Teil 2: Begrenzung
Aus 10 vor 10 vom 08.04.2024.
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Zürich Kreis 5 vs. Unteriberg Zwei Sichtweisen auf die Zuwanderung

Nicht nur Vertretende der Wirtschaft zeigen sich zunehmend skeptisch gegenüber der Immigration. Auch im linken Kreis 5 in Zürich wird sie kritisch betrachtet.

Jahrelang erklärt die Schweizer Wirtschaft die Zuwanderung als unabdingbare Voraussetzung für unseren Wohlstand und damit die Personenfreizügigkeit und den bilateralen Weg als Notwendigkeit. Doch ausgerechnet Vertretende der Wirtschaft geben sich plötzlich skeptisch. Was heisst das jetzt? Gelten all die bisherigen Beteuerungen auf einmal nicht mehr? Und was meint das Volk dazu?

Der Kreis 5 der Stadt Zürich gilt seit Jahr und Tag als Hochburg der Linken und als progressivster Wahlkreis der Schweiz. Er hat bis heute einen sehr hohen Anteil Ausländerinnen und Ausländer und gab sich in den letzten Jahren immerzu besonders zuwanderungsfreundlich. Doch wie sehen die Menschen hier die Zuwanderung? Stehen sie weiter uneingeschränkt zur Personenfreizügigkeit?

Wer den Bahnhof Hardbrücke in der Rushhour erlebt, weiss genau, was mit Dichtestress gemeint ist, doch erstaunlicherweise gaben sich kürzlich in einer SRF-Befragung Pendlerinnen und Pendler resilient dagegen.

Zuwanderung ist ein schwieriges Thema im Kreis 5

Im Kreis 5 nachgefragt, offenbart sich nun unmissverständlich ein deutliches Unbehagen gegenüber der Zuwanderung im urbanen Raum. Politgeograf Michael Hermann sagt: «Diese kritische Haltung gegenüber der Zuwanderung von ganz rechts bis tief ins linke Milieu habe ich so noch nie erlebt.»

Eine humane Einstellung gegenüber allen Menschen und eine offene Haltung zu Europa sind mir wichtig. Irgendwie müssen wir die Zuwanderung angehen und das Problem lösen, aber ich weiss beim besten Willen nicht, wie das gehen könnte.
Autor: Bewohnerin aus dem Kreis 5

Der Dichtestress scheint die Kreis-5-Bewohnenden also zu belasten: «Es wird immer voller hier, obwohl es jetzt schon pumpenvoll ist» sind öfters geäusserte Voten, während vielen nicht ganz wohl dabei scheint: «Eine humane Einstellung gegenüber allen Menschen und eine offene Haltung zu Europa sind mir wichtig. Irgendwie müssen wir die Zuwanderung angehen und das Problem lösen, aber ich weiss beim besten Willen nicht, wie das gehen könnte.»

Damit ist diese Kreis-5-Bewohnerin nicht allein, wie Meinungsforschende von GFS-Bern schon vor Jahren festgestellt haben: «Die Beziehung zur EU, das Gesundheitswesen und die Altersvorsorge sind diejenigen Themen, bei denen sich immer mehr Stimmbürgerinnen und -bürger keine eigene Meinung mehr zutrauen.»

Migration als Mobilisierungsthema der Stunde

Es gilt als unbestritten, dass hauptsächlich die Zuwanderung aus der EU unseren Dichtestress verursacht und nicht Asylsuchende. Fachkräfte begehren Hortplätze und Wohnungen, gehen ins Fitnessstudio und zur Pediküre und brauchen Platz im Zug, Restaurant und auf der Autobahn. «Es scheint fast, als sei die Schweiz in einer Endlosschlaufe – oder in einer ökonomischen Zwangsjacke», folgert die NZZ.

Die Wirtschaft braucht Fachkräfte, dies wiederum erhöht die Nachfrage, «und für die höhere Nachfrage braucht es wieder mehr Fachkräfte». Basierend auf exakt dieser Argumentation erklärt die SVP Zuwanderung flugs zum Schneeballsystem, worauf die NZZ die Abwesenheit der anderen Parteien in dieser Debatte bitter beklagt: «Die Zuwanderung ruft geradezu nach politischem Gestaltungswillen.»   

Würden nicht endlich auch die anderen Parteien das Thema aufnehmen, werde es immer wieder zur Abstimmung kommen «und die SVP damit dauerhaft Wahlsiege feiern», denn Migration sei aktuell das grosse Mobilisierungsthema «für alle rechten und rechtspopulistischen Parteien». Nur scheinen die anderen Parteien das Thema Zuwanderung zu meiden wie eine heisse Kartoffel.

Doch die anderen Parteien seien in der Zwickmühle, sagt Politgeograf Michael Hermann: Allen voran die FDP, die als Partei der Wirtschaft den bilateralen Weg während Jahren am vehementesten propagiert hat, und dieser würde bei einer Begrenzung der Zuwanderung kaum mehr Zukunft haben. Auch die Mitte ist auf den bilateralen Weg eingeschworen und kann eine Kehrtwende kaum begründen.

SP und Grüne schliesslich verstehen die Schweiz als Teil Europas und können den Bruch mit der EU nicht riskieren, würde die Schweiz die Personenfreizügigkeit kündigen. Damit bleiben die Grünliberalen, doch die Zürcher Ständerätin Tiana Moser beklagt, dass es für eine Partei, die nicht im Bundesrat vertreten sei, oft schwierig sei, sich Gehör zu verschaffen. Damit bleibt der Weg frei für die SVP.

Die Rassismus-Keule 

Dafür gebe es aber noch einen anderen Grund, meint Michael Hermann: «Das Thema Zuwanderung polarisiert so stark, dass mit negativen Reaktionen rechnen muss, wer sich öffentlich dazu äussert.» Dies bestätigt die Aargauer Zeitung aufgrund konkreter Erfahrungen: «Am Thema Migration verbrennt man sich hierzulande leicht die Finger.» Davon kann Unteriberg SZ ein Liedchen singen.

Die konservativste Gemeinde der Schweiz gilt als SVP-Hochburg und trotz tiefem Anteil an Ausländerinnen und Ausländern, ist man hier zuwanderungskritisch. Ein bekanntes Phänomen, sagt Meinungsforscher Michael Hermann: «Was man nicht kennt, macht Angst.» Ja, man habe ein Unbehagen gegenüber Fremden, deshalb aber sei man nicht ausländerfeindlich, nur vorsichtig und vielleicht etwas kritisch.

Die Zuwanderung wird zum Problem, auch wenn ich nichts gegen Ausländer habe.
Autor: Einwohnerin vom Kreis 5

«Dass wir deshalb seit Jahren in die braune Ecke gestellt und als Rassisten beschimpft werden, nervt enorm», sagt die Mutter eines Kleinkindes und benutzt damit exakt den Wortlaut, den zuvor eine junge Mutter im Kreis 5 in Zürich benutzt hat. Die Stadtzürcherin meinte, sie stehe trotzdem dazu, weil es ein Fakt sei: «Die Zuwanderung wird zum Problem, auch wenn ich nichts gegen Ausländer habe.»

Auch ich werde immer wieder als Rassist bezeichnet, dabei bin ich selbst Ausländer.
Autor: Secondo aus dem Kreis 5

Das Problem sei, dass die Politik nicht viel gegen Zuwanderung machen könne, «weil die EU bestimmt». Auch sie äussert eine diffuse Angst: «Ja, wegen der Kinder. Ich arbeite für die Justiz und weiss, wer hier die Straftaten begeht.» Ihr Partner ist Unternehmer und als Secondo im Kreis 5 aufgewachsen: «Auch ich werde immer wieder als Rassist bezeichnet, dabei bin ich selbst Ausländer.»

Rechtspopulisten nehmen das Geschenk dankend an

Solche Erfahrungen stehen gemäss Pulitzerpreisträger Bret Stephens für eine weltweite Entwicklung. «Wenn die Politik Migrationsprobleme kleinredet, dann kommen extreme Parteien an die Macht», so der Kolumnist der New York Times, der dieses Jahr WEF-Teilnehmer in Davos war. Es räche sich, dass man nicht offen über Ausländerprobleme sprechen dürfe, ohne als Rassist gebrandmarkt zu werden. Der Aufstieg von Trump, AfD und Le Pen zeige, dass es sich räche, wenn nicht offen über Migration geredet werde.

Gegenüber der Aargauer Zeitung sagt er: «Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin selbst Sohn eines Flüchtlings, befürworte die legale Einwanderung und sehe sie gar als enorme Bereicherung.» Doch Migration brauche auch Assimilation: «Und es überrascht nicht, dass Menschen auf der ganzen Welt gleich reagieren, wenn ihre Ängste und ihr Unbehagen nicht ernst genommen werden.»

Und zwar, indem sie sich von jenen Politikerinnen und Parteien lossagen, «die das Migrationsproblem ignorieren oder kleinreden». Dass diese Erfahrung nun auch Menschen im Kreis 5 in Zürich machen, der «roten Hochburg» der Schweiz, müsste für die Schweizer Politik nun tatsächlich Denkanstoss genug sein.

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Archiv: Serie «Zuwanderung Schweiz» – Teil 1: Ausgangslage
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10vor10, 9.4.2024, 21:50 Uhr

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