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Ihre Fragen zu Frankreich «Ist der Präsident eine Art König in Frankreich?»

SRF-Frankreich-Korrespondentinnen Zoe Geissler und Mirjam Mathis haben Ihre Fragen zu Frankreich im Live-Chat beantwortet.

Expertinnen im Chat:

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Mirjam Mathis
Frankreich-Korrespondentin
SRF

Zoe Geissler
Frankreich-Korrespondentin
SRF

Chat-Protokoll:

Wie bewerten Sie als Frankreich-Expertinnen den Umgang der Medien mit den Gerüchten um Brigitte Macron? Gibt es da regionale/internationale Unterschiede, wie das heikle Thema angegangen wird?

Mirjam Mathis: Ich habe den Prozess wegen Cyber-Mobbing gegen Brigitte Macron verfolgt. Die Berichterstattung über die Gerüchte, Brigitte Macron sei als Mann geboren, und über den Prozess habe ich als sehr faktenbasiert wahrgenommen in den traditionellen Medien in Frankreich und auch anderen Ländern.

Anders ist dies aber in sozialen Medien, wo sich nicht professionelle Journalisten äussern und dementsprechend ungeprüfte Informationen sehr schnell verbreitet werden – und dies zum Teil mit einer hohen Reichweite. Genau darum geht es am Ende in diesem Prozess. Man kann heute als Privatperson aus politischen Gründen oder weil man Aufmerksamkeit erlangen will, im Internet unfundierte Gerüchte verbreiten und diese auf der ganzen Welt streuen. Eine Verurteilung würde aufzeigen, dass eben auch im Internet nicht alles erlaubt ist. Allerdings ist offen, ob die angeklagten Personen tatsächlich wegen Cyber-Mobbing verurteilt werden. Der Fall ist kompliziert, und in einem ersten Gerichtsverfahren wegen Verleumdung wurden zwei angeklagte Frauen in zweiter Instanz freigesprochen.

Weshalb vernehmen wir nichts in der Presse über Frankreichs «Engagement» in den afrikanischen frankophonen Staaten?. Im Speziellen über die AES (Burkina Faso, Mali und Niger), die Frankreich den Rücken kehrten und auch keine oder nur noch minimale Rohstoffe liefern, was für die finanzielle Lage in Frankreich auch grössere finanzielle Auswirkungen hat. Vielen Dank!

Mirjam Mathis: Guten Tag Frau Fanger Vielen Dank für ihre Frage. Es freut mich, dass Sie sich für dieses Thema interessieren. Ich habe persönlich tatsächlich seit einiger Zeit nicht mehr vertieft über die Beziehung Frankreichs mit den Staaten der Sahelzone berichtet. Die Abkehr der frankophonen Staaten in den letzten Jahren ist frappant, allerdings sind die kurzfristigen Auswirkungen auf die französische Wirtschaft gemäss einem Bericht der Nationalversammlung beschränkt, da der Anteil dieser Rohstoffe am Gesamtbedarf Frankreichs nicht dominant ist. Siehe hier. Beunruhigend wird in Frankreich aber die Situation in Bezug auf die die geopolitische Lage eingeschätzt. Denn durch die Neupositionierung der Länder in der Sahelzone verliert Frankreich Einfluss in Afrika. Besonders die Tatsache, dass der Einfluss aus Russland und China in diesen Ländern steigt, missfällt Frankreich.

Wie korrupt ist eigentlich die französische Regierung im Vergleich zur Schweiz?

Mirjam Mathis: Gemäss Transparency International wurde Frankreich letztes Jahr als leicht korrupter empfunden als die Schweiz. Auf einer Skala von 0-100 erreichte Frankreich 67 Punkte, die Schweiz 81 (100 = überhaupt nicht korrupt). Ich denke, Korruption ist nicht eines der Hauptprobleme des Landes. Persönlich erlebe ich aber eine sehr komplizierte und ineffiziente Administration. Woran dies liegt, konnte ich noch nicht abschliessend erörtern.

Mir bereiten die jungen Rechten sorgen. Remigration, Ausländerhass usw. Wie sehen sie diese Entwicklung? Könnte es bald zu einem Rechtsrutsch kommen? Sehen sie das auch als Gefahr für ganz Europa?

Zoe Geissler: Vielen Dank für Ihre Frage, die ich nicht abschliessend beantworten kann. Gerne teile ich aber einige Gedanken dazu. Zu beobachten ist derzeit, dass die politischen Ränder – also links und rechts – insbesondere bei jungen Menschen an Bedeutung gewinnen, zuletzt etwa bei den Bundestagswahlen in Deutschland. Die aktuelle Entwicklung, diese zunehmende Polarisierung bis hin zu Extremismus, stellt eine grosse Herausforderung dar und ja, sie kann auch eine Gefahr für europäische Demokratien sein. Denn Demokratien leben vom ständigen Austausch und konstruktiven Reibungen – während eine zunehmende Spaltung den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet.

Ich denke, wir müssen als Gesellschaft auf solche Entwicklungen behutsam reagieren und gleichzeitig junge Wählerinnen und Wähler in ihren Sorgen ernst nehmen und sie im kritischen Denken fördern. Das heisst auch, im Umgang mit den sozialen Medien.

Die Elitebildung in Frankreich ist sehr interessant, wie ist die eigentlich entstanden. Wissen Sie das? Wird das eigentlich schlimmer?

Mirjam Mathis: Eine spannende Frage. Ich kann nicht sagen, wie diese genau entstanden ist, aber ich muss zugeben, dass ich das Gefälle zwischen Elite und dem Rest der Bevölkerung mit Sorgen beobachte. Und dies beginnt schon im Schulalter. Viele Familien schicken ihre Kinder auf Privatschulen, was dazu führt, dass diese nur mit einem Teil der Gesellschaft in Kontakt kommen. Wenn ich mit Eltern spreche, höre ich, dass es einen grossen Druck gibt, die Kinder an die «richtige» Schule zu schicken. Denn allein der Name der Schule kann über spätere berufliche Erfolgschancen entscheiden. Dieses Phänomen zeigt sich auch sehr stark in der politischen Elite: Viele französische Politiker sind zum Beispiel Abgänger der Ecole nationale d'administration (ENA). Dazu gehören Emmanuel Macron, François Hollande oder Jacques Chirac, um nur ein paar zu nennen. Der Vorwurf aus der Bevölkerung, die Elite in Paris verstünde ihr Leben nicht, ist deshalb gut nachvollziehbar. Denn tatsächlich sind viele Politiker fern von der normalen Gesellschaft aufgewachsen.

Wie steht es rund um Nicolas Sarkozy. Wird er bald wieder befreit? Wie schätzen Sie das Urteil ein? Zu Recht oder zu Unrecht?

Mirjam Mathis: Nicolas Sarkozys Inhaftierung ist eines der grossen Themen hier in Frankreich. Die Chancen stehen gut, dass der ehemalige Präsident Frankreichs bald wieder aus dem Gefängnis kommt. Wegen seines Alters kann er eine Haftanpassung beantragen. Dies hat bereits Wahib Nacer, ein 81-jähriger Mitangeklagter im gleichen Prozess gemacht und er wurde diese Woche nach einem Monat Haft entlassen. Was das Urteil angeht: Es ist tatsächlich eine sehr harte Massnahme, bereits in erster Instanz die sofortige Inhaftierung zu fordern, zumal keine Fluchtgefahr besteht von Nicolas Sarkozy. Das Gericht begründete die Massnahme mit der Haltung des ehemaligen Präsidenten, der bereits in mehreren Korruptionsfällen verurteilt wurde und sich nicht einsichtig zeige.

Was die Verurteilung an sich angeht: Der Fall ist äusserst komplex, die juristische Aufarbeitung hat zehn Jahre gedauert. Es fehlen klare Beweise, dass Geld aus Libyen tatsächlich in Sarkozys Präsidentschaftskampagne gelandet sind, was die Verurteilung für die Allgemeinheit schwierig verständlich macht. Es ist ein sogenannter Indizienprozess. Ob die nächste Gerichtsinstanz auch zum gleichen Schluss kommen wird, kann ich nicht sagen, aber ich habe im Prozess mitbekommen, dass das Gericht sehr metikulös vorgegangen ist. Es kann also nicht die Rede sein von einer Verschwörung gegen Nicolas Sarkozy, was der ehemalige Präsident selber nach der Verurteilung behauptet hat.

Welche Optionen hat Frankreich realistisch, die hohen Staatsschulden abzubauen? Ist das in einer europäischen Demokratie noch möglich? Regierungswechsel / hohe Inflation, mit nächstem Regierungswechsel / Austritt aus EU mit Abwertung????

Mirjam Mathis: Der Abbau der hohen Staatsschulden ist eine Herkulesaufgabe für Frankreich. Wenn sich das Land nicht in der politisch heikelsten Situation seit Jahrzehnten befinden würde, sollte aber mindestens eine Stabilisierung der Schulden durch konsequente Sparmassnahmen möglich sein. Leider hatte sparen in den vergangenen Jahren aber überhaupt keine Priorität. Und nun ist die Situation politisch so vertrackt, dass einschneidende Sparmassnahmen schwierig umsetzbar sind. Frankreich hat aber trotz allem eine funktionierende Wirtschaft und wird durch die Europäische Zentralbank so weit gestützt, dass nicht mit einem Staatsbankrott à la Griechenland zu rechnen ist.

Guten Morgen, mich würde interessieren, wie wirkt sich die politische Instabilität auf das Vertrauen der Bevölkerung aus?

Zoe Geissler: Tatsächlich ist das Vertrauen der Bevölkerung gegenüber der Politik in den vergangenen Monaten weiter gesunken. Laut Umfragen vertrauen noch rund 20 Prozent der Franzosen und Französinnen den Abgeordneten, und gerade einmal 10 Prozent den Parteien. Vor diesem Hintergrund haben viele das Gefühl, von der Politik nicht mehr vertreten zu werden.

In persönlichen Gesprächen höre ich viel Besorgnis über die Zukunft des Landes, aber auch Wut auf die Politiker, denen vorgeworfen wird, dass sie nicht imstande seien, die grossen Probleme konstruktiv anzupacken. Zudem nehme ich eine wachsende Politikmüdigkeit wahr. Manche wollen gar nicht mehr über die Politik reden, «es ändere sich ja eh nichts».

Guten Tag Sind sich die Franzosen ihrer Staatschulden und entsprechenden Zinszahlungen bewusst? Sind sich die Franzosen bewusst, dass ihre extrem hohe Steuerbelastung für Reiche (z. B. fast 50 % auf 150'000 CHF) dazu führt, dass ihre besten Steuerzahler abwandern oder bereits abgewandert sind (siehe div. Medienberichte)? Es wandern auch keine mehr zu... (Stichwort auch hohe Erbschaftssteuern der Franzosen). Sind sich die Franzosen bewusst, dass sie ganz Europa in den Abgrund reissen könnten? Besten Dank und Gruss

Mirjam Mathis: Guten Tag. Das Bewusstsein bezüglich der finanziellen Situation des Landes wird immer grösser in Frankreich. Noch vor ein paar Jahren war der explodierende Schuldenberg leider kaum Thema in der Politik oder in der Bevölkerung. Es war in Frankreich während Jahrzehnten normal, dass man Schulden anhäuft und über den Verhältnissen lebt. Seit die Europäische Union im vergangenen Jahr ein Defizitverfahren eingeleitet hat und die Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit Frankreichs heruntergestuft haben, ist der Schuldenberg zum grossen Thema geworden. Politisch kommt dies aber zum ungünstigsten Zeitpunkt. Denn Emmanuel Macron kann dem Land nicht mehr einfach eine Sparkur verordnen, weil er so schwach ist wie nie zuvor in seinen zwei Amtszeiten und über keine Mehrheit im Parlament verfügt. Die Opposition kann somit die Regierung jederzeit absetzen, was wiederum zu einem grossen wirtschaftlichen Schaden führt. Französische Ökonomen sehen es deshalb als prioritär, einen Ausweg aus der politischen Krise zu finden, auch wenn dies bedeutet, dass man weniger sparen kann. Was die Steuerbelastung für Reiche betrifft, muss man die Sache differenziert anschauen. Es stimmt, dass in Frankreich die Steuern bis zu 45 Prozent betragen auf das Einkommen, was hoch ist. Die Belastung ist aber nicht nur für Reiche hoch, sondern betrifft auch den Mittelstand: Ein Jahreseinkommen ab 30'000 Euro wird bereits zu 30 Prozent versteuert, ab 84'000 Euro sind es 41 Prozent. Es stimmt, dass Frankreich allgemein den Ruf hat, sehr viel Steuern einzutreiben. Eines der grossen Ziele von Emmanuel Macron war es deshalb, die Steuerbelastung in Frankreich zu senken. Er hat unter anderem die Vermögenssteuer abgeschafft (aktuell werden nur noch Immobilien versteuert), die Unternehmenssteuern gesenkt und eine Pauschalsteuer auf Einkünfte aus Kapitalvermögen eingeführt. Ausserdem gibt es zahlreiche Schlupflöcher, um die Steuerbelastung zu senken. Das heisst, die Reichen haben in den letzten Jahren tendenziell eher profitiert. Dies führt dazu, dass die aktuelle Debatte in Frankreich eher in die gegenteilige Richtung geht: viele Menschen finden es ungerecht, dass die sehr reichen Personen in Frankreich prozentual viel weniger Steuern bezahlen und fordern eine Vermögenssteuer für Vermögen ab 100 Millionen Euro. Auch wenn die Steuerbelastung in Frankreich beträchtlich ist, scheint ein Absenken der Steuern nicht die Lösung für das finanzielle Problem Frankreich. Denn durch die Steuersenkungen in den letzten Jahren hat der französische Staat auch hunderte Milliarden weniger Steuern eingenommen, was den Schuldenberg ebenfalls wachsen liess.

Liebe Frau Mathis, liebe Frau Geissler, Gerne möchte ich Sie fragen, wie wahrscheinlich Sie es erachten, dass die nächste französische Regierung von der «Front national» gestellt werden wird und ob man dies fürchten sollte. Vielen Dank für Ihre Einschätzung.

Zoe Geissler: Meine Antwort kommt auf das Szenario an. Eine Regierung, die vom Rassemblement National (ehemals Front National) gestellt würde, ist in der jetzigen Zusammensetzung der Nationalversammlung unwahrscheinlich, da sie kaum Chancen hätte lange zu halten. Das Rassemblement National strebt in der jetzigen politischen Ausgangslage gar nicht an, den Premier und die Regierung zu stellen. Die Partei fordert vorgezogene Neuwahlen. Dies bringt mich zum zweiten Szenario: Sollte es zu vorgezogene Neuwahlen kommen, hängt es davon ab, wie viele Sitze die Partei tatsächlich gewinnen kann. Aktuelle Umfragen zeigen, dass das Rassemblement National gemeinsam mit seinen Verbündeten zwar die meisten Stimmen holen könnte, aber keine absolute Mehrheit erreichen würde. Das würde bedeuten, dass eine Regierungsbildung abermals schwer werden dürfte. Prognosen sind aber schwierig, der zweite Wahlgang ist im französischen Mehrheitswahlrecht unberechenbar.

Mich interessiert eine Frage zum politischen System und wie die Franzosen und Französinnen dazu stehen. Wie hält sich ein Präsident über Jahre in einem System, das von ständigen Krisen erschüttert wird. Ist der Präsident eher eine Art König in Frankreich? Der die Premierminister einfach wechselt. Und wie steht das Volk resp. die Einwohner zu dieser Frage. Weil in Frankreich die Menschen sich öfter als bei uns zusammenschliessen und auf die Strasse, um zu protestieren und sich zu wehren, erscheint mir das als Widerspruch.

Mirjam Mathis: Sie beschreiben die Situation sehr treffend. Wer in Frankreich Präsident ist, hat fast königliche Autorität, vor allem wenn er über eine eigene Parlamentsmehrheit verfügt. Und selbst bei politischen Blockaden, wie Frankreich diese aktuell erlebt, gibt die Verfassung dem Präsidenten einen besonderen Schutzstatus. Er soll für eine gewisse Stabilität stehen und kann nur im Extremfall und mit einer sehr aufwändigen Prozedur vom Parlament abgesetzt werden. Die Premierminister hingegen sind eine Art Puffer, die im Krisenfall ersetzt werden. Und anders als in anderen westlichen Demokratien werden die Regierungschefinnen und Regierungschefs auch vom Präsidenten ernannt. Was zu weiteren Spannungen führt, wenn der Präsident keine Mehrheit hat im Parlament, er aber dennoch weiter eine Regierung aus seinem eigenen Lager stellt. Das ist aktuell der Fall und führt zu starker politischer Instabilität in Frankreich und zu viel Unmut.

Was die Bevölkerung angeht: auf die Strasse zu gehen und zu protestieren, ist praktisch die einzige Möglichkeit für die Menschen, ihren Unmut kundzutun. Ich sehe dies deswegen nicht unbedingt als Widerspruch. Aktuell ist es aber so, dass viele Menschen in Frankreich sich politikmüde zeigen und resignieren. Den Glauben an die verschiedenen Parteien scheinen sie zu verlieren, oder sie wenden sich den Extremen zu, die bisher noch nie an der Macht waren. Was das politische System an sich angeht, da haben die Französinnen und Franzosen eine ambivalente Haltung: einerseits wird die Machtfülle des Präsidenten kritisiert, gleichzeitig erwartet man, dass der oder die Staatschef/in alle Probleme löst.

Sollte Seb. Lecornu mit seinem Haushalt-Budget nicht durchkommen .. Müsste mit einer erneuten Rating-Anpassung durch S&P gerechnet werden? Und die zweite Frage: Wie dünn ist das Eis für Präsident Macron wirklich resp. besteht objektiv überhaupt noch eine Chance, dass er den Rest seiner Amtszeit übersteht? Vielen Dank!

Zoe Geissler: Das ist durchaus ein Risiko. Bereits im Oktober hat S&P Frankreichs Kreditwürdigkeit herabgesetzt von AA- auf A+ – aufgrund der politischen Unstabilität. Solche Herabstufungen sind für ein hoch verschuldetes Land wie Frankreich äusserst ungünstig, weil sie in der Folge damit rechnen müssen, höhere Zinsen auf ihre Staatsanleihen zu zahlen. Derzeit sind wir noch mitten in der Budget-Debatte, die Verhandlungen verlaufen durchaus schwierig und sind aufgeladen. Präsident Emmanuel Macron steht politisch mit dem Rücken zur Wand. Seit der Auflösung des Parlaments im letzten Jahr musste er bereits mehrere Premierminister auswechseln. In der Bevölkerung ist er äusserst unbeliebt. Das bedeutet aber nicht, dass er selbst gehen muss. Ein Rücktritt wäre seine eigene Entscheidung und bisher hat er dies ausgeschlossen.

Was ist in den letzten Jahren politisch gesehen konkret falsch gelaufen, sodass man momentan so viele negative Schlagzeilen hat?

Mirjam Mathis: Diese Frage in Kürze zu beantworten, ist nicht einfach. Wenn man auf die Jahre seit 2017 schaut, also seit der ersten Amtszeit von Präsident Emmanuel Macron, kann man sagen, dass damals grosse Hoffnung herrschte in der Bevölkerung auf einen Neuanfang. Es gab hohe Erwartungen an Emmanuel Macron, der sich ja als Modernisierer positioniert hat und versprach, jenseits des Links-Rechts-Denkens zu politisieren. Diese Erwartungen konnte der französische Präsident aber nicht erfüllen, was nach und nach zu mehr Ungunst und Misstrauen geführt hat. Wenn ich in Frankreich unterwegs bin, höre ich oft von Menschen, dass sie sich nicht ernst genommen fühlen und ihre Probleme von den Politikern in Paris ignoriert werden. Das hat sich zum Beispiel bei den Massenprotesten 2023 gegen die Rentenreform gezeigt: Über eine Million Menschen waren auf der Strasse, und auch die französische Nationalversammlung wollte diese Reform nicht. Dennoch hat die Regierung im Auftrag von Emmanuel Macron die Reform durchgeboxt. Das war das Recht des Präsidenten, hat aber in Frankreich politisch eine Wunde aufgerissen, die bis heute nicht verheilt ist. Emmanuel Macrons Beliebtheit ist gemäss Umfragen mittlerweile auf einem Tiefpunkt angekommen, er wird als arrogant wahrgenommen und sogar von Politikern aus den eigenen Reihen öffentlich kritisiert. Die bis heute unverstandene Entscheidung des Präsidenten, 2024 das Parlament aufzulösen, hat ausserdem zu einer kompletten politischen Blockade geführt und zur Absetzung von mehreren Regierungen. Das heisst, für einen Teil der aktuellen Krise ist Emmanuel Macron direkt verantwortlich.

10 vor 10, 27.10.2025, 21:50 Uhr ; 

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