Die Preise steigen – viele Konsumentinnen und Konsumenten stellen sich darauf ein, dass sie den Gürtel bald etwas enger schnallen müssen. Doch Kosmetik-Verkäufe haben Hochkonjunktur. Ein Drittel aller Kosmetik-Produkte geht bei Manor über den Ladentisch, der grössten Warenhauskette der Schweiz. Die Verkaufszahlen von Mascara, Nagellack und Lippenstift seien derzeit augenfällig. Sie liegen deutlich über denjenigen von 2019.
«Wir vermuten bei Lippenstift einen Zusammenhang mit der konjunkturellen Stimmung», sagt Julien Kohler, der bei Manor für den Bereich Beauty zuständig ist. Er verweist auf den sogenannten Lipstick-Effekt, wonach Konsumentinnen und Konsumenten auf grössere Investitionen verzichten, sich aber den kleinen Luxus gönnen. Ein ähnlicher Effekt spiele bei Nagellack: Er bringe Farben in den vielleicht trostlosen Alltag.
Wir vermuten bei Lippenstift einen Zusammenhang mit der konjunkturellen Stimmung.
Der Lipstick-Effekt ist kein harter Wirtschaftsindikator, viel mehr ist es ein Phänomen, das eine Kausalität zu erklären versucht. «Erklärungsansätze finden sich in der Substitutionshypothese, andererseits in der Evolutionspsychologie», sagt Christian Weibel, Psychologe an der Hochschule Luzern. Zu seinen Forschungs- und Beratungsschwerpunkten gehört das Kauf- und Konsumverhalten. Die Substitutionshypothese geht davon aus, dass Menschen von hochpreisigen Luxusartikeln auf günstigere Produkte ausweichen.
«Die Motivation für dieses Verhalten ist, dass man sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten etwas gönnen möchte.» Eine andere Begründung liefert der Erklärungsansatz aus der Evolutionspsychologie: Menschen sind demnach in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten eher motiviert, sich einen Partner oder eine Partnerin zu suchen und achten darum auf das Äussere.
Doch was ist dran an diesen Kausalitäten? «Es sind keine verlässlichen Indikatoren», sagt Christian Weibel. Beim Lipstick-Effekt fehlt die fundierte Datenbasis. Analysiert werden nur jene Zahlen, die die Hersteller punktuell von sich aus publizieren. Zudem entwickeln sich die Verkäufe auch gut in wirtschaftlich besseren Zeiten. Die Korrelation ist also nicht gegeben.
Das R-Wort
Einen Grund, warum sich Expertinnen dennoch mit dem Phänomen abgeben, sieht Christian Weibel im Bedarf nach möglichst umfangreichen Daten. «Menschen können schlecht mit Unsicherheiten umgehen», erklärt er. Wo auch immer neue, contra-intuitive Erkenntnisse aufploppten, würden diese in Forschungskreisen auf Interesse stossen.
Menschen können schlecht mit Unsicherheiten umgehen.
Der Lipstick-Effekt ist nur einer von solchen Wirtschafts-Phänomenen. Weibel nennt als weiteres Beispiel den R-Wort-Index. Er misst, wie häufig das Wort Rezession in Zeitungen verwendet wird. Je häufiger, desto wahrscheinlicher wird eine Rezession.
Beim R-Wort-Index spielt aber die sich selbsterfüllende Prophezeiung eine wichtige Rolle. «Aufgrund der Prognose beginnen Menschen, sich anders zu verhalten», erklärt Weibel.
Wenn Konsumentinnen und Unternehmer eine Rezession erwarten, beginnen sie zu sparen und investieren weniger – in der Summe tritt eine Rezession ein. Das wiederum führt dazu, dass die Ergebnisse des R-Wort-Indexes als schlüssig empfunden werden.