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Unterschiedliche Chancen Bildung vererben: Warum so wenige Lehrlinge später studieren

Sepp Blatter, alt Bundesrat René Felber, Gewerkschaftspräsidentin Vania Alleva und Professorin Margrit Stamm – sie alle haben den sozialen Aufstieg geschafft: Sie stammen aus einer Arbeiterfamilie und haben studiert. Solche Aufsteiger und Aufsteigerinnen sind in der Schweiz aber eher die Ausnahme.

Ein junger Mann schaut sich Übungen in der Schule an.
Legende: Nur wenige Lehrlinge gehen nach der Berufslehre an eine höhere Fachhochschule. Keystone/Gaetan Bally)

«Es ist in der Schweiz sehr unwahrscheinlich, dass man vom Tellerwäscher zum Millionär wird», sagt Benita Combet, Soziologin an der Universität Zürich.

Benita Combet

Soziologin und Bildungsforscherin

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Benita Combet ist Soziologin an der Universität Zürich und Ambizione-Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds. In ihrem Projekt untersucht sie die geschlechts- und klassenbasierte Studienfachwahl.

Die soziale Mobilität ist in der Schweiz im internationalen Vergleich nicht besonders gross, das zeigen die neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik: Während nur 27 Prozent der Kinder aus bildungsfernen Familien studieren, sind es bei Kindern mit Akademikereltern 70 Prozent.

Wie gross die soziale Mobilität in einer Gesellschaft ist, hängt laut Benita Combet vor allem davon ab, «wie sehr der Staat gewillt ist, diese zu unterstützen und entsprechend in die Bildung und den Sozialstaat zu investieren».

Ungleiche Chancen im Schweizer Bildungssystem

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Das Bildungsniveau wird in der Schweiz meist vererbt, das zeigen die neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik: Während nur 27 Prozent der Kinder aus bildungsfernen Familien studieren, sind es bei Kindern mit Akademikereltern 70 Prozent.

Die Wahrscheinlichkeit, einen tiefen Bildungsstand zu erlangen, also weder eine Berufslehre abzuschliessen noch eine Mittelschule, ist bei Eltern mit obligatorischem Bildungsabschluss mehr als 10 Mal höher als bei Eltern, die studiert haben.

In der Schweiz ist es für Kinder aus bildungsfernen Schichten schwierig, eine höhere Bildung als die der Eltern zu erreichen. Das liegt vor allem daran, dass in der Schule zu früh selektioniert wird, da ist sich die Bildungsforschung weitgehend einig: In allen Kantonen ausser dem Tessin entscheidet sich nach sechs Jahren Primarschule, in welche Stufe die Schülerinnen und Schüler eingeteilt werden.

In fast allen anderen OECD-Ländern bleiben die Klassen bis in die neunte oder zehnte Klasse leistungsmässig durchmischt. Und so könnten Schülerinnen und Schüler, die eine Lernblockade erst mit 15 lösen, einfacher gefördert werden. Das helfe talentierten Kindern, aufzusteigen.

Wie eine Generation das Bildungsniveau an die nächste weitergibt

«Kinder mit studierten Eltern haben es einfacher», erklärt die Bildungsforscherin. «Sie können ihre Kinder eher beim Lernen unterstützen und wenn sie selbst nicht helfen können, dann zahlen sie die Nachhilfe.» Zudem spielten für Akademikerkinder die Kosten der höheren Bildung kaum eine Rolle.

Anders als Kinder aus ärmeren Familien müssten sie nicht möglichst rasch Geld verdienen. «Und Akademiker-Eltern ist es häufiger wichtig, dass die Kinder einen ähnlichen Bildungsabschluss haben wie sie selbst.» Zum Beispiel eine Ärztedynastie, wo schon mehrere Generationen von Ärztinnen und Ärzten den Weg vorgespurt haben.

Die Schweiz muss sich überlegen, wie sie das Berufsbildungssystem modernisieren möchte.
Autor: Benita Combet Bildungsforscherin an der Universität Zürich

Grundsätzlich kann auch Medizin studieren, wer sich als Jugendlicher für eine Berufslehre entschieden hat – Berufsmaturität und Passerelle machen es möglich. Doch auf diesem Weg sind die Hürden viel höher als für jene, die nach dem Gymnasium direkt an die Uni gehen.

Und das schreckt viele ab: 22 Prozent mit einem Lehrabschluss machen zwar eine Berufsmatura. Von diesen schliesst dann aber nur etwas mehr als die Hälfte eine Fachhochschule ab. Und weniger als 1 Prozent studieren an einer Uni.

Da müsse sich etwas ändern, sagt Soziologin Benita Combet: «Die Schweiz muss sich überlegen, wie sie das Berufsbildungssystem modernisieren möchte.» Damit die Lernenden am Schluss der Lehre mehr Fähigkeiten hätten, die sie flexibel – und nicht nur in einem Beruf – einsetzen und später eine weiterführende Schule besuchen könnten.

Das wäre auch im Sinne der Wirtschaft, denn der Bedarf an Akademikern kann bei weitem nicht mit Abgängerinnen von Schweizer Unis und Fachhochschulen gedeckt werden. Talentierte Aufsteigerinnen und Aufsteiger wären also gesucht.

Echo der Zeit, 10.01.2023, 18:00 Uhr

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