Im Sommer 2024 sah sich Nemo mit einer enormen Erwartungshaltung konfrontiert. Wie soll Nemos gewohnte, nahbare Herzlichkeit live auf die schillernde Hochglanz-Welt des eben gewonnenen Eurovision Song Contest abgestimmt werden? Das Resultat war eine etwas zu handgemachte und nervöse Festivalshow, in der ähnlich viel passieren sollte wie bei einem ESC-Auftritt – Nemo wollte zu viel und konnte darum zu wenig liefern.
Am Openair St. Gallen ist nun nichts mehr von dieser Zerrissenheit zu spüren. Die Kostümwechsel sind gestrichen, niemand rennt mehr mit mobilen Plattformen über die Bühne oder filmt den Bieler Popstar für Live-Visuals, auch die Band ist geschrumpft. Neben Nemo sind nur ein Drummer und ein Keyboarder auf der Sternenbühne, getragen von Backing-Tracks. Das lässt Nemo ganz viel Raum, um sich auf das zu konzentrieren, was diesen Act ausmacht: Nemo.
Cypher am Festival
Dafür sind die Leute an diesem Sonntagnachmittag nämlich da. Schon bevor das Konzert beginnt, ist die Zeltbühne randvoll. Nemos Fans bewegen sich nach wie vor in allen Szenen und Altersklassen, entsprechend schultern die Eltern ihre mit Gehörschutz ausgestatteten Kids, sobald der erste Ton aus den Boxen schallt. Eine solch generationenübergreifende Zuhörendenschaft erreicht kein anderer Act an diesem Festival.
Als müsste sich Nemo auch vor diesem Publikum dafür rechtfertigen, seit dem Eurovision-Sieg vor über einem Jahr nur eine Handvoll Songs releast und Interviews gegeben zu haben, kommt nach dem Opener «Eurostar» gleich der viral gegangene Part vom SRF Bounce Cypher 2025. Gefolgt von Nemos grossen Mundart-Hits «Himalaya» und «Ke Bock», so hat man das Schweizer Publikum sofort im Sack.
Nemo singt Chers «Believe»
Während sich die Zeltbühnen-Crowd bei den schweizerdeutschen Liedern sofort in einen riesigen Chor verwandelt, reagiert sie nach wie vor verhalten auf die englischen Titel – obwohl es bereits fünf Jahre her ist, seit Nemo mit «Dance with Me» neues musikalisches Terrain betanzt hat. Vielleicht liegt es an der höllischen Hitze im Sittertobel, vielleicht sind Nemos frühere und jetzige Ären auch weniger einfach miteinander vereinbar, als Nemo sich das wünscht.
Wobei man das akustisch zu keinem Zeitpunkt vermuten könnte, die Show wirkt wie aus einem Guss. Und Nemo selbst merkt man sowieso nichts dergleichen an bei der gelösten Spielfreude, die Nemo hier an den Tag legt. Nemo steigt in den Bühnengraben runter zu den Leuten, plaudert locker zwischen den Songs, covert Chers Eurodance-Hymne «Believe».
Das Publikum fühlt mit
Die aktuelle Single «Unexplainable», mit deren Performance Nemo am ESC 2025 für Aufregung sorgte, verlangt Nemo physisch und emotional alles ab. Als die Leute das merken, fangen sie Nemo sofort mit frenetischem Klatschen und Jubel auf. Sie mögen nicht das enthusiastischste Publikum sein, aber sie sind stets voll da und freuen sich darüber, dass Nemo so bei sich zu sein scheint wie noch nie.
Es hat etwas gedauert, aber Nemo hat die ESC-Fesseln abgelegt. Mundart bleibt ein kleiner Klotz am Bein, jedoch einer, der nach dem Release des Debütalbums «Arthouse» im Oktober und der zugehörigen Europa-Tour wohl nochmals an Gewicht verliert.