In den letzten 30 Sessionen unseres Parlaments in Bern gab es bloss deren vier, an denen nicht über den Wolf gestritten wurde. Das ist nicht die kühne Aussage eines Umweltaktivisten, sondern das sagte am 9. März 2016 unsere Bundesrätin und designierte Bundespräsidentin Doris Leuthard in leicht genervtem Ton vor dem Ständerat.
Haben die hohen Räte tatsächlich kein anderes Problem als ein scheues Tier im Wald und in den Bergen, das sie allen Ernstes zum Hauptschuldigen für die Krise im Berggebiet machen und in den Räten zum Dauerbrenner? Nun ist ja hinlänglich bekannt, dass sich aller Gattung Ängste politisch bewirtschaften lassen. Aber ausgerechnet mit dem Wolf? In der heutigen Zeit?
Als Wölfe wirklich noch gefährlich waren
Wölfe waren in früheren Jahrhunderten für die mehrheitlich bitterarme Bevölkerung tatsächlich ein Problem. Die Menschen auf dem Land waren hauptsächlich auf Selbstversorgung angewiesen. Der Verlust von Schafen oder Ziegen konnte dramatische Konsequenzen auf die eh knappe Ernährungslage haben. Kriege oder Seuchenzüge wie die Pest verursachten chaotische Zustände: Überall tote Menschen, herumirrende Nutztiere, besitzerlos streunende Hunde. In solchen Zeiten des Chaos mit einem enormen Futterangebot für wilde Fleischfresser brach nicht nur die Ordnung der Menschen, sondern auch die soziale Geburtenkontrolle der Wölfe zusammen, die in ökologisch stabilen Zeiten die Zahl der Tiere strikt beschränkt: Normalerweise hat nur ein Weibchen im Rudel Junge und diese wandern aus dem Gebiet aus, sobald sie geschlechtsreif sind.
Entstand aber durch Krieg oder Seuchen ein Chaos, vermehrten sich die Wölfe stark und kreuzten sich wohl auch mit streunenden Hunden. Die Folge war, dass sie ihre natürliche Scheu vor den Menschen verloren, es kam immer wieder zu Übergriffen. Wölfe waren auch Träger der Tollwut und steckten Menschen mit dem tödlichen Virus an. Im 18. Jahrhundert wurden die Gemeinden selbst im Flachland von der Obrigkeit angehalten, Wolfsnetze bereit zu halten, um Treibjagden zu veranstalten, wie viele historische Schriften belegen. So wurde auch eine beträchtliche Anzahl Wölfe erlegt. Es war nur logisch, dass man diese schädlichen Raubtiere nach Jahrhunderten des Schreckens vor rund 150 Jahren in der Schweiz ausrottete. Aus heutiger Sicht war aber die unnatürliche, starke Vermehrung der Wölfe stets eine Folge der dramatischen Verhältnisse, die die Menschen damals selbst geschaffen hatten. In der kulturellen Erinnerung aber blieb der fatale Eindruck bis heute bestehen: Jeder Wolf verkörpert automatisch eine Gefahr für Leib und Leben.
Wohlstand nimmt die Angst
Diese finsteren Zeiten sind heute glücklicherweise Vergangenheit – doch sie wirken nach, obwohl sich unsere Lebensumstände fundamental geändert haben – selbst im Berggebiet. Heute hungert bei uns kaum noch jemand. Es gibt elektrische Energie, ein geordnetes Verkehrs- und Transportsystem, stabile Wohnstrukturen, Schulen und Arbeitsplätze, es gibt funktionierende Ordnungskräfte – kurz: Wohlstand und Sicherheit – im totalen Gegensatz zu früher.
Die Wälder haben in der Schweiz seit 1840 um 50 Prozent zugenommen, noch nie gab es so viel Schalenwild in der Schweiz wie heute – ausreichend natürliche Nahrung für Wölfe. Und, im Gegensatz zu allen gegenseitigen Behauptungen: Schafherden können mit einem entsprechenden Aufwand durchaus wirksam vor Wölfen geschützt werden. Die Gesellschaften in Süd- und Osteuropa machen es vor, wo es seit Jahrtausenden Schafherden im Wolfsgebiet gibt.
Nur böse Wölfe sind rentabel
Auf der Seite rationaler Argumente gibt es also kaum etwas, das grundsätzlich dagegen spricht, dass der Wolf als wichtige, ökologische Schlüsselart seine Rolle in unserer Natur wieder spielen könnte: Er hält die Populationen seiner Beutetiere fit und gesund und sorgt dafür, dass es weniger Konzentrationen von Rehen, Hirschen und Gämsen gibt, die durch Verbiss der jungen Bäume der Waldverjüngung schaden. Die Wildschweine hält er auf Trab und sorgt damit für geringere Schäden in der Landwirtschaft. In einer solchen, ökologisch stabilen Situation funktioniert auch die Geburtenkontrolle der Wölfe in ihren Territorien. Sie halten durch erbitterte Revierverteidigung andere Wölfe fern und damit ihre Zahl auf riesigen Flächen gering. Objektiv gesehen haben die Wölfe heute ihren früheren Schrecken verloren.
Es bleibt die irrationale Angst: Unsere Recherchen zeigten, dass die unheimliche Angst vor den Wölfen, vor allem in den Berggebieten, heute noch weit verbreitet ist. Das Gefühl ist real. Ein Lehrer in Graubünden formulierte es so: «Einem, dem in der Höhe schwindlig wird, kann man auch nicht sagen: Hab keine Angst, es hat hier ja ein Geländer.» Und was machen Politiker und Medien aus dieser diffusen Angst?
Anstatt aufgrund sachlicher Betrachtung der Verhältnisse den Ängsten Gegensteuer zu geben, legen sie noch nach: Der böse Wolf in den Köpfen und im Bauch der Menschen bringt mehr als die Wirklichkeit eines scheuen Wildtiers draussen im Wald. Politik lebt eben von Emotionen, ob sie nun der Wahrheit und Wirklichkeit entsprechen oder nicht ...