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Geheilt, aber nicht gesund

Krebs ist oft kein Todesurteil mehr. Bis zu vier von fünf erkrankten Kindern und Jugendlichen werden geheilt. Doch je länger, je mehr wird klar: Die Therapie hinterlässt Schäden an Herz, Lunge, Ohren, Hirn – die Liste ist lang. Erst allmählich verstehen Mediziner, was die Betroffenen brauchen.

Eigentlich ist es die Geschichte eines Erfolges, oder genauer gesagt: die Geschichte unzähliger Erfolge. Im Laufe der letzten 50 Jahre hat sich die Behandlung von Krebs im Kindesalter immer weiter verbessert. Etwa 80 Prozent aller krebskranken Kinder und Jugendlichen können geheilt werden. «Das ist die schöne Seit der Medaille», sagt Nicolas von der Weid. Er ist Krebsspezialist am Universitätskinderspital in Basel. Sein Spezialgebiet ist jedoch die dunkle Seite dieser Medaille.

Langfristige Folgen

Denn die Therapien, die Leben retten, hinterlassen Spuren im Körper der jungen Patienten. Das war lange Zeit Nebensache im fast aussichtslosen Kampf gegen Krebs. Doch je besser die Heilungschancen, umso wichtiger wird, wie es den Patienten 10, 20 oder 30 Jahre nach Therapieende geht.

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Die Leiden von Krebsüberlebenden
aus Wissenschaftsmagazin vom 22.03.2014. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 7 Minuten 8 Sekunden.

Die Mediziner verwenden für das, was danach kommt, das Wort Spätfolgen, denn die Schäden werden oft erst Jahre, manchmal aus Jahrzehnte nach überstandener Krebserkrankung spürbar. Auch wer sich nach der Heilung jahrelang gut gefühlt hat, kann also noch von den Folgen der Therapie eingeholt werden.

Dabei liegt die Schwierigkeit für Patienten und Mediziner vor allem darin, dass es fast unzählige mögliche Folgen gibt. Die Bestrahlung schadet immer dort, wo sie eingesetzt wird. Lag also das Herz, das Gehirn, die Schilddrüse oder vielleicht die Lunge im Bestrahlungsfeld, kann das langfristig und zunächst unbemerkt zu Schäden führen. Bestimmte Chemotherapeutika wiederum können das Herz schädigen, andere Ohren und Augen, wieder andere die Knochen oder das Gehirn. Nicht zuletzt ist oft die Fruchtbarkeit der Patienten betroffen. Wer sich also mit den Spätfolgen beschäftigt, muss die Details der ursprünglichen Krebstherapie kennen.

Informationsfluss mangelhaft

Und daran hakt es. Viele Patienten wissen nicht, welche Therapie sie warum bekommen haben. Und nicht jeder Arzt zieht daraus den richtigen Schluss und erkundigt sich beim ursprünglich behandelnden Kinderonkologen. «Das ist ein neuer Bereich, den unsere Kollegen der Erwachsenen-Medizin, die Allgemeinpraktiker, die Internisten, möglicherweise auch die Erwachsenen-Onkologen, noch nicht sehr gut kennen», sagt Nicolas von der Weid.

Die Konsequenz: Die Patienten stehen mit ihren Beschwerden, die keiner versteht, oft alleine da. Nicolas von der Weid und Fachkollegen haben deshalb die Krebsüberlebenden in der Schweiz gefragt, was sie sich wünschen würden. Das Votum fällt klar pro Hausarzt aus. Mehr als die Hälfte will im vertrauten Umfeld versorgt werden. Etwa ein Drittel wünscht sich eine spezielle Sprechstunde am Spital. Nicolas von der Weid schätzt, dass in der Schweiz mindestens zwei solcher Spezialsprechstunden mit Experten notwendig wären.

Helfen könnte schliesslich ein sogenannter Survivor-Pass, der zurzeit im Rahmen eines europäischen Netzwerks namens PanCare entwickelt wird. Im Pass soll eine Zusammenfassung der Therapie enthalten sein, ergänzt durch Empfehlungen für die Nachsorge – mit einem Zeithorizont weit über die bisher übliche Nachsorge hinaus. Den bekäme jeder Patient am Ende der Therapie und hätte so selbst die Informationen in der Hand, die sein zukünftiger Arzt braucht. Bis Ende Jahr könnte das Konzept womöglich schon praxistauglich sein – wenn alles gut geht.

Dieser Einsatz für die Patienten könnte sich lohnen. Viele Spätfolgen sind relativ gut zu handhaben, wenn man gut therapiert und überwacht. Herzschwäche etwa ist gut eingestellt viel weniger gefährlich als ohne Überwachung. Ein schlechtes Gehör kann, einmal diagnostiziert, durch Hörhilfen zumindest ausgeglichen werden.

Noch viele Fragen offen

Forscher weltweit arbeiten daran, zu verstehen, wer, wann und warum welche Spätfolgen bekommt. Denn das ist noch lange nicht geklärt. Aktuelle Forschungsprojekte fragen vor allem, welchen Einfluss die genetische Ausstattung der Patienten hat. Offenbar gibt es dort starke Unterschiede von Patient zu Patient, die noch lange nicht verstanden sind.

Nicht zuletzt verändert das, was die Krebsspezialisten über die Folgen der verabreichten Therapien lernen, auch die Therapie selbst. Die Mediziner versuchen, Schäden zu vermeiden, ohne die Heilungschancen zu senken. Dass Krebstherapie immer auch aus Versuch und Irrtum besteht, wird wohl noch lange so bleiben.

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