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Geistig Behinderte lässt man schneller sterben

Nur etwa 20 Jahre alt wurden Menschen mit einer geistigen Behinderung noch in den 1930er-Jahren. Heute leben sie rund 70 Jahre. Wie werden sie in der Schweiz von Heimen oder Angehörigen am Lebensende begleitet? Erstmals befasst sich eine Studie mit dieser Frage – und liefert brisante Ergebnisse.

237 Todesfälle in Schweizer Heimen hat Monika Wicki von der interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik im Rahmen einer Nationalfonds-Studie zum Thema «Lebensende» untersucht. Eines ihrer Resultate: Wenn Menschen mit einer geistigen Behinderung in Heimen im Sterben liegen, dann sind lebenserhaltende Massnahmen selten.

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Sterbehilfe für Behinderte?
aus Echo der Zeit vom 13.01.2015. Bild: Symbolbild Keystone
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 42 Sekunden.

«Bei der Studie haben wir festgestellt, dass hier sehr häufig auf künstliche Beatmung und Ernährung verzichtet wurde. Häufiger auch als bei Menschen mit anderen Behinderungen», fasst Wicki zusammen. So wurden Menschen mit einer geistigen Behinderung in 36 Prozent der untersuchten Fälle nicht künstlich ernährt oder beatmet. Zum Vergleich: Bei körperlich oder psychisch Behinderten wurde nur in 15 Prozent auf lebenserhaltende Massnahmen verzichtet.

Verweigertes Recht auf Selbstbestimmung

Ausserdem könnten Menschen mit einer geistigen Behinderung am Lebensende kaum mitentscheiden. Laut der Studie werden sie signifikant weniger in Entschlüsse einbezogen als Personen mit anderen Behinderungen. Viel stärker bestimmen stattdessen Angehörige, Ärzte oder Beistände.

NFP 67 «Lebensende»

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Das Nationalfondsprojekt soll neue Erkenntnisse gewinnen über die letzte Lebensphase von Menschen jeden Alters, die aller Voraussicht nach nur noch kurze Zeit zu leben haben. Das NFP erarbeitet Handlungs- und Orientierungswissen für einen würdigen Umgang mit der letzten Lebensphase. Die Forschungsarbeiten haben 2012 begonnen.

www.nfp67.ch

Das Studienresultat schockiert Mark Zumbühl, Geschäftsleitungsmitglied von Pro Infirmis, der Fachorganisation für behinderte Menschen. «Das ist ein klarer Verstoss gegen Grundgesetz, gleiche Rechte, Selbstbestimmung und schliesslich auch gegen das Diskriminierungsverbot.» Die Erkenntnisse aus der Studie stehen auch im Widerspruch zum neuen Erwachsenenschutzgesetz: Auch urteilsunfähige Menschen müssen, wenn möglich, in Entscheide über ihr Lebensende einbezogen werden.

Dieser Herausforderung seien sich die Heime sehr wohl bewusst, sagt Christina Affentranger Weber von Curaviva. «Man wird da noch genauer hinschauen, wie man diese Menschen sinnvoll einbeziehen kann. Diese Themen beschäftigen uns sehr im Moment.» Herauszuspüren, wie Menschen mit einer geistigen Behinderung sterben möchten, ist ausgesprochen schwierig – es sei aber durchaus möglich.

Sterbenden «Leid ersparen»?

Warum bei Menschen mit einer geistigen Behinderung so viel seltener lebenserhaltende Massnahmen getroffen werden, darauf gibt die Nationalfonds-Studie keine Antwort. Vielleicht wollten Angehörige den Sterbenden Leid ersparen, vermutet Christina Affentranger Weber.

Nur: Was heisst das, fragt Heidi Lauper von der Elternorganisation Insieme. «Das ‹Leid ersparen› ist ein Thema, das wir im Zusammenhang mit geistig behinderten Menschen immer wieder antreffen. Dabei wird in die Menschen hineinprojiziert, dass sie leiden.»

Ob sie auch tatsächlich leiden, müsse aber für jeden Fall einzeln beurteilt werden. Heidi Lauper hat daher weitere mögliche Erklärungen: «Es kann sein, dass es kostspielig ist, dass es mehr intensive Begleitung braucht oder zusätzliches Betreuungspersonal.»

Herausforderung für das Personal

Mark Zumbühl von Pro Infirmis stellt daher fest: «Da ist ein riesiger Nachholbedarf bei der Ausbildung, in der Betreuung und Begleitung der Pflegenden.»

Die Heime hätten das Thema erkannt, heisst es bei Curaviva. Fachkreise diskutierten die Problematik schon seit längerem – die breite Öffentlichkeit hingegen noch kaum. Die Heime wollen ihr Personal nun mit Weiterbildungen sensibilisieren.

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