Zum Inhalt springen

Missstände im Turnsport Grober Verfahrensfehler bei Trampolin-Fall

Eine Trainerin im Schweizer Trampolinsport soll jahrelang Kinder und Jugendliche misshandelt haben. Die Ethikstelle sperrt sie daraufhin vorsorglich. Wenig später hebt der Präsident der nächsthöheren Instanz, der Disziplinarkammer, die Sperre auf. Ein Entscheid, den er nicht hätte fällen dürfen.

Vor drei Jahren sorgten die Magglingen-Protokolle für ein Erdbeben im Schweizer Turnsport. Kunstturnerinnen und Gymnastinnen berichteten von jahrelangen Misshandlungen. Bundesrätin Viola Amherd versprach daraufhin stärkere Kontrollen und eine Null-Toleranz bei Ethikvergehen. Jetzt zeigen Recherchen von SRF Investigativ: Das System funktioniert offenbar nur mangelhaft.

In einem aktuellen Turnsport-Fall beging die Disziplinarkammer des Schweizer Sports einen groben Verfahrensfehler. Die Sperre aufgehoben hat der Präsident der Disziplinarkammer, Carl-Gustav Mez. Dieser kennt den Geschäftsleiter des betroffenen Trainingszentrums NKL seit Jahrzehnten privat und hätte bei der Aufhebung der Suspendierung deshalb in den Ausstand treten müssen.

Trampolin-Enthüllungen

Box aufklappen Box zuklappen
Trampolinspringerin in Luft
Legende: ZVG/Tim Dannenberg

Die neuen Missstände im Schweizer Turnsport deckte SRF Investigativ im Frühjahr 2023 auf. Ehemalige Kader-Turnerinnen im Bereich Trampolin berichteten, sie seien jahrelang von ihrer Chef-Trainerin beschimpft, eingeschüchtert, physisch und psychisch misshandelt worden. Die Misshandlungen sollen sich im Nordwestschweizerischen Kunstturn- und Trampolinzentrum Liestal (NKL) zugetragen haben. Die Athleten und Athletinnen meldeten die Vorfälle der Sport-Ethik-Meldestelle Swiss Sport Integrity (SSI), die nach den Magglingen-Protokollen neu geschaffen worden war.

Diese reagierte sofort und sperrte die Trainerin vorsorglich und per sofort bis zum Abschluss des Verfahrens. SSI begründete ihren Entscheid damit, dass eine «hohe Wahrscheinlichkeit» bestehe, dass sich die Übergriffe tatsächlich zugetragen hätten. Trotz der Sperre: Die Trainerin arbeitet weiterhin mit jungen Athleten und Athletinnen. Ihr Arbeitgeber, das Leistungszentrum in Liestal, hatte die Suspendierung bei der nächsthöheren Instanz, der Disziplinarkammer angefochten – mit Erfolg. Die Disziplinarkammer hob die Sperre wieder auf.

Die beiden Männer gehören derselben Pfadi an, sitzen seit vielen Jahren gemeinsam in den wichtigsten Gremien des Vereins und sehen sich regelmässig. Das zeigen unter anderem Fotos aus dem Pfadi-Archiv und Protokolle von Sitzungen. Sie sind Teil des Stiftungsrats des Pfadfinderheims, sowie Mitglied im Abteilungsrat – dem obersten Leitungsorgan dieser Pfadi.

«Ausstand wäre zwingend gewesen»

Für Benjamin Schindler, Professor für Prozessrecht an der Universität St. Gallen, hätte der Präsident der Disziplinarkammer beim Entscheid über die Aufhebung der Suspendierung zwingend in den Ausstand treten müssen: «Wenn sich zwei Personen über so viele Jahr in zwei Gremien so häufig sehen und zusammenarbeiten, deutet das auf ein persönliches Verhältnis hin.»

Es entsteht der Verdacht, dass nicht unparteiisch und unbefangen entschieden worden ist.
Autor: Benjamin Schindler Professor für Prozessrecht Universität St. Gallen

Aus Sicht des Professors besonders problematisch: Die beiden Pfadi-Kollegen standen in der Sache direkt miteinander in Kontakt. Der Geschäftsleiter des Trainingszentrums hatte die Einsprache gegen die Sperre seiner Chef-Trainerin eigenhändig unterzeichnet, wie Dokumente zeigen. Adressiert war die Einsprache direkt an seinen Pfadi-Kollegen, den Präsidenten der Disziplinarkammer.

Ruf der Disziplinarkammer des Schweizer Sports gefährdet

Benjamin Schindler verweist bei seiner Einschätzung auf Artikel 47 der Zivilprozessordnung. Diese schreibt vor, dass eine Gerichtsperson allein bei Verdacht auf Befangenheit in den Ausstand treten muss. Es sei deshalb irrelevant, ob die Nähe der beiden Männer den Entscheid tatsächlich beeinflusst hat, so Schindler. In diesem Fall ist das tatsächlich nicht klar.

Dennoch, so Schindler, sei bereits der Anschein einer möglichen Befangenheit ein Ausstandsgrund und könne dem Ruf der Disziplinarkammer schaden. «Die Autorität dieser Institution hängt alleine davon ab, was sie für eine Reputation hat und welches Vertrauen Sportlerinnen und Sportler ihr entgegenbringen.» Deshalb sei es wichtig, dass sich die Mitglieder der Kammer sehr genau an die Ausstandsvorschriften hielten, sagt Schindler.

Fall nun erneut bei Disziplinarkammer – Mez nicht mehr involviert

Der Präsident der Disziplinarkammer, Carl-Gustav Mez, schreibt auf Anfrage: Er habe sich vor der Aufhebung der Suspendierung mit dem Sekretär der Kammer beraten. Es gelte ein Vier-Augen-Prinzip. Jeder einzelne Fall werde unvoreingenommen und unabhängig beurteilt. Zudem sei die Aufhebung der provisorischen Sperre verhältnismässig gewesen, so Mez. Der Geschäftsleiter des Trainingszentrums NKL wollte sich gegenüber SRF nicht äussern.

Der Fall Trampolin steht inzwischen kurz vor dem Abschluss. Die Sport-Ethik-Stelle Swiss Sport Integrity hat ihre Untersuchung abgeschlossen. Sie erachtet es weiterhin als sehr wahrscheinlich, dass es im Liestaler Trainingszentrum zu psychischen und physischen Misshandlungen gekommen ist. Das Dossier liegt nun bei der Disziplinarkammer zur abschliessenden Beurteilung. Carl-Gustav Mez wird dabei keine Rolle mehr spielen. Mit der Recherche konfrontiert, gab der Präsident der Disziplinarkammer bekannt, für die finale Beurteilung in den Ausstand zu treten.

SRF zwei, Sportpanorama, 29.10.2023 18:00 Uhr

Meistgelesene Artikel