Der Moment hat ihr fast schon die Welt bedeutet. Darum wollte Marlen Reusser ihn grosszügig auskosten. Bei ihrem zweiten Triumph an der Tour der Suisse nach 2023 versammelten sich am Sonntag quasi die gesamte Familie sowie die engsten Freunde im Ziel. Auch Partner und Trainer Hendrik Werner fand sich in Küssnacht SZ ein – sogar mit Tränen in den Augen vor lauter Überwältigung. «Das kommt nicht oft vor, dass er mit dabei ist. Darum macht es alles noch spezieller», unterstrich die 33-Jährige nach ihrer Triumphfahrt.
Sie sei gut gelaunt, «um mit allen zu feiern», betonte Reusser gleich nochmals. Allzu lange nahm sie sich gleichwohl nicht Zeit dafür, denn am selben Abend rief noch der Berninapass. Doch der Reihe nach ...
Frustrierend für die anderen, elegant für sie selbst
Die «mega, mega Freude» ob ihrer überzeugenden Leistung kam auch deswegen auf, weil sie vor heimischem Publikum das Gelbe Trikot täglich ausführen durfte. Die Bernerin hatte schon auf der Ausgangs-Etappe zugeschlagen und behauptete sich dank dem 2. Tagessieg bis zum Schluss als Leaderin. Die erstaunlich gute Stimmung entlang der Strasse nannte sie als Teil ihres Erfolgs. «Ich hörte so oft meinen Namen, das hat mich gepusht», versicherte sie. Im SRF-Interview strich eine gelöste Reusser zwei Begegnungen am finalen Tag hervor:
- Unterwegs in der Hitze rund um die Rigi schüttete ein ihr unbekannter Mann Wasser über den Nacken. Er habe ihr damit einen Gefallen getan, «denn ich durfte die Flasche nicht entgegennehmen, und eine Abkühlung war willkommen».
- Aus dem Feld gabs von der früheren Teamkollegin Mischa Bredewold (NED) einen gewünschten Energiegel mit Koffein, den sie selbst nicht mehr zur Hand hatte. «Sie aber führte ein ganzes Arsenal mit.»
Das Gute daran war, dass es die anderen dahinter genauso viel Energie kostete.
So konnte sich Reusser gänzlich aufs Fahren konzentrieren und setzte eine reife taktische Leistung, die sie sich mit ihrer Movistar-Equipe zurechtgelegt hatte, in Perfektion um. In einer zeitweise eher isolierten Situation versuchte sie, sich stets in guter Position aufzuhalten. Im Anstieg ging es ihr darum, das Tempo nicht zusammenfallen zu lassen, um jederzeit die Kontrolle zu behalten.
9,5 km vor dem Ziel ereignete sich der perfekte Moment. Reusser schildert diesen augenzwinkernd mit folgenden Worten: «Dort bin ich gut losgestiefelt, musste aber durchaus mit etwas Laktat zurechtkommen. Das Gute daran war, dass es die anderen dahinter genauso viel Energie kostete.»
In der Nachbetrachtung denkt die Olympia-Silbergewinnerin von 2021, dass ihre Attacke vor allem Demi Vollering (NED), ihre abgehängte Konkurrentin um den Gesamtsieg, frustriert hatte. Für Reusser selber war diese Art und Weise der Entscheidung «definitiv eleganter als ein Sieg im Schlusssprint», den sie sich durchaus zugetraut hätte.
Es geht mit hochtrabenden Ambitionen nahtlos weiter
Schnell aber richtet die Strassenfahrerin den Blick nun nach vorn – und nimmt dabei grosse Ziele ins Visier. In einem kurzen Höhentrainingsblock auf dem Berninapass legt sie aktuell die Basis, um «nochmals eine Stufe zünden zu können». Den Giro d'Italia (ab 6.7.) nennt sie als ganz grosses Ziel, aber ebenso die Tour de France (ab 26.7.).
Und dann flirtet sie gleich mit einer anderen Vision: «Ich bin eine sehr gute Zeitfahrerin, konnte an einer WM aber noch nie alle schlagen. Vielleicht wäre es an der Zeit, diesen Titel auch noch einzutüten.» Die Weltmeisterschaften finden heuer Ende September in Ruanda statt.