Gaza ist ein wenig aus den Schlagzeilen verschwunden, aber weiterhin von Leid und Not geprägt. Die deutsch-norwegische Kinderpsychologin und Traumatherapeutin Katrin Glatz Brubakk war mehrmals für «Ärzte ohne Grenzen» vor Ort und hat ein Buch darüber geschrieben.
SRF: Was hat Sie nach Gaza geführt?
Katrin Glatz Brubakk: Ich habe eine Ausbildung und Erfahrung. Ich kann daher helfen und habe Gott sei Dank einen Kopf, der das aushält. Es ist ein Geschenk, Kindern eine etwas bessere Zukunft bieten zu können.
Gewöhnt man sich je an die Gefahr?
Ja und nein. Wenn zwei Kilometer entfernt Bomben fallen, nimmt man das mit der Zeit nicht mehr gross wahr. Andererseits steht man permanent unter Spannung wegen der ständigen Angst.
Sie halfen im Nasser-Spital. Wie sah dort der Alltag aus?
Die Altersgruppe mit den meisten Toten und Verletzten waren die Fünfjährigen. Weil sie für Eltern zu schwer sind, um sie hochzuheben und wegzurennen, aber ihre Beine noch zu kurz sind, um schnell wegzulaufen.
Wie prekär waren Ihre Arbeitsbedingungen?
Uns fehlte immer etwas. Schwerste Operationen finden ohne sterile Handschuhe statt. Das Gesundheitswesen läuft nur noch, weil die palästinensischen Kollegen nie aufgeben. Und sie sind kreativ. Aus Duschvorhängen wird OP-Material genäht.
Welche Angewöhnung dauerte am längsten?
Der Umstand, dass 80 Prozent von Gaza zerstört ist. Es gibt keine Wasserversorgung mehr, keine Abfallentsorgung, es gibt kaum noch Häuser. Da dauert ein bisschen, ehe man es versteht.
Was hat Sie besonders geprägt?
Stark traumatisierte Kinder sind entweder extrem zurückgezogen, hören auf zu spielen und zu reden. Oder sie sind sehr unruhig, haben Panikattacken, schreien laut. Ich habe Zweijährige getroffen, die sich die Haare ausreissen vor lauter Unruhe. Was in Gaza aber speziell ist, sind die Angstschreie, wie ich sie in diesem Mass noch nie erlebt habe. Sie sind ganz laut und intensiv – als ob das ganze Leiden Gazas in einer Kinderstimme gesammelt würde. Diese Schreie vergesse ich nie.
Lässt sich das therapieren?
Im Krieg sind lange Therapien unmöglich, aber wir können diesen Kindern eine Pause bieten. Ihr Nervensystem ist stets auf Hochtouren, sie haben immer Angst.
Sie arbeiten beispielsweise mit Seifenblasen. Wieso?
Seifenblasen finde ich magisch. Sie ziehen unweigerlich die Aufmerksamkeit an. Es hilft den Kindern, den Fokus zu wechseln, hin zu etwas Friedlichem. Was noch hinzu kommt: Unter Stress atmen wir alle ganz hoch oben in der Brust. Der Körper meldet: Hier ist Gefahr. Aber wenn wir tief durchatmen, ist es umgekehrt. Bei traumatisierten Kindern Atemübungen zu machen, ist sehr schwierig. Aber wenn man Seifenblasen macht, muss man richtig durchatmen.
Ist in Gaza eine ganze Generation verloren gegangen?
Eine ganze Generation ist stark traumatisiert. Das A und O ist jetzt, dass die Waffen schweigen. Und es braucht einen stabilen Alltag.
Israel hat «ihr» Krankenhaus bombardiert. Weil dort die Hamas Soldaten versteckt habe.
Weder ich noch meine Kollegen haben da je Hamas-Soldaten gesehen.
Wie bleibt man im Kriegsgebiet funktionsfähig?
Weil ich funktionieren musste und auch meine Kollegen nicht belasten wollte. Meine grösste Sorge ist eigentlich, dass ich nicht mehr berührt werde, wenn ich Leiden sehe. Ich möchte menschlich bleiben.
Was motiviert Sie, täglich zu helfen?
Obwohl es seinen Preis hat, ist es vor allem ein Geschenk, so arbeiten zu können. Wenn Kinder nach vielen Wochen Therapie endlich wieder lächeln, ist das einfach schön.
Das Gespräch für SRF führte Urs Gredig.