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Natürliches Hirn-Doping Wie wir uns mittels Gedanken zu Höchstleistungen anspornen können

Schneller sprinten oder länger radeln – und das nur dank der Kraft unserer Gedanken. Was dahinter steckt und wie sich diese Kraft nutzen lässt.

Bis 1954 galt es als unmöglich, eine Meile in weniger als vier Minuten zu laufen. Der Körper könnte unter dem Druck kollabieren, so die Befürchtung. Der Weltrekord von 4:01.4 Minuten, den der schwedische Läufer Gunder Hägg 1945 aufgestellt hatte, blieb lange unangetastet.

Erst neun Jahre nach Hägg gelang es Roger Bannister den Rekord und zugleich die magische Grenze der vier Minuten zu brechen. Das Erfolgsrezept: Bannister habe die Strecke im Geist immer und immer wieder gelaufen.

Das Erstaunliche daran: Bannister konnte den Rekord nur wenige Wochen halten. Es scheint also, als hätte Bannister nicht nur die unantastbaren vier Minuten, sondern auch die gedanklichen Grenzen der Läufer durchbrochen – so zumindest der Mythos.

Sich mit Gedanken zu Höchstleistungen pushen, das will auch der SRF-Moderator Tobias Müller. Für ein achttägiges «Einstein»-Veloabenteuer setzt er auf Mentalstrategien: Ein Kleber mit dem Schriftzug «Power» auf dem Lenker soll beim Aufstieg positive Emotionen wecken – und so für Kraft in den Beinen sorgen.

Klingt erst mal mehr nach Hokuspokus als Wissenschaft. Doch die Placebo-Forschung macht die Kraft unserer Gedanken greifbar. Hinter dem bekannten Placeboeffekt steckt nämlich nicht reine Einbildung, sondern messbare neurophysiologische Mechanismen. Schmerz-Erkrankte etwa können nach der Verabreichung eines Placebos körpereigener Opioide und Dopamine aktivieren. Das Gehirn dient also quasi als körpereigene Apotheke und ersetzt damit Schmerzmedikamente.

Placebos: ohne Wirkstoff, aber mit Wirkung

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Im engeren Sinn bezeichnet das Placebo ein wirkstofffreies Scheinpräparat, also etwa eine farbige Zuckertablette ohne Arzneistoff und damit ohne pharmakologische Wirkung. Der Begriff Placebo wird jedoch zunehmend breiter gefasst und kann auch Scheinbehandlungen umfassen. Beispiele dafür sind etwa die Scheinoperation, also eine Operation ohne therapeutischen Eingriff, oder die Scheinakupunktur. Bei letzterer werden die Nadeln an definierten Nicht-Akupunkturpunkten und/oder nur oberflächlich gesetzt.

Unter dem Placeboeffekt versteht man demzufolge eine Linderung der Symptome nach Einsatz eines Placebos. Oder anders gesagt: die positive körperliche und psychische Reaktion, die nicht auf die spezifische Wirksamkeit einer Behandlung zurückzuführen ist. Erwiesen hat sich der Placeboeffekt bei verschiedensten Krankheiten wie Parkinson, Depressionen oder Immunerkrankungen.

Viele der aus der Placebo-Forschung bekannten Mechanismen spielen auch im Sport eine entscheidende Rolle –darunter insbesondere Schmerzen, Müdigkeit, die motorische Kontrolle und die Sauerstoffverfügbarkeit. Gerade deshalb erfreut sich der Placeboeffekt auch im Sport grosser Aufmerksamkeit.

Wie eine 2019 publizierte systematische Übersicht bestätigt, beeinflussen wohl verschiedenste Placeboeffekte die sportliche Leistung – zumindest gering bis mässig. Am grössten sei der Effekt bei verbotenen leistungssteigernden Substanzen wie Anabolika und EPO.  

Bannisters Trick ist heute Standard im Profisport

Wie viel Macht der Gedanken nun tatsächlich in Bannisters Meilen-Weltrekord lag, darüber lässt sich nur spekulieren. Jedenfalls hat er sich seiner Gedankenmacht bedient, indem er sich seinen Erfolg intensiv vorstellte. Eine Technik, die im Profisport längst zum Standard gehört: das Visualisieren.

Visualisieren: Sich Erfolg vorstellen, statt dafür zu schwitzen

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Bei der sogenannten Visualisierungstechnik stellt man sich Ereignisse oder Bewegungen vor, ohne diese tatsächlich auszuführen. Man stellt sich also beispielsweise den Start am Marathon vor – nicht nur bildlich, sondern möglichst mit allen Sinnen. Dazu gehört also auch etwa die Musik im Startgelände, der erhöhte Puls oder die Anspannung in den Beinen. Aus der Forschung ist nämlich bekannt, dass Visualisierungen umso stärker wirken, je intensiver und vielfältiger sie sind.

Aus bildgebenden Verfahren ist bekannt, dass sich beim Visualisieren ähnliche Hirnregionen aktivieren wie beim körperlichen Training: darunter beispielsweise der primär motorische Cortex, der an der Bewegungskontrolle beteiligt ist. Auf diese Weise kann das Gehirn beim Visualisieren Bewegungsmuster verinnerlichen, aber auch Motivation und Selbstvertrauen stärken oder Ängste reduzieren. Die Technik des Visualisierens ist weitestgehend dafür anerkannt, sportliche Leistungen zu fördern und wird breit angewendet.

Klingt verlockend: Sich den bahnbrechenden Lauf einfach intensiv genug vorstellen, damit er am Wettkampf endlich gelingt? Bei aller Euphorie für die Gedankenkraft muss die am Universitätsspital Zürich tätige Placebo-Forscherin Cosima Antoinette Locher relativieren: «Die Gedankenkraft wird oft zu deterministisch, kausal und linear ausgelegt». Denn nur weil man an ein Ereignis glaubt, trete dies natürlich nicht einfach ein.

In ihrer Begeisterung für unsere Gedankenkraft lässt sich Locher trotzdem nicht bremsen: Sie liebe Placebos, denn in unseren Gedanken sehe sie grosses Potenzial. Und damit ist sie nicht allein. Tobias Müller jedenfalls gelingt der steile Aufstieg. Das sei auch dem «Power»-Kleber auf dem Fahrradlenker zu verdanken. Die sportpsychologische Erklärung dafür: Mit dem Schlüsselwort und den damit verbundenen positiven Emotionen gelangt Kraft ins Bewusst- und Unterbewusstsein – und damit auch in die Muskelfasern.

Puls, 19.06.2023, 21:00 Uhr

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