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Palliative Care – Den letzten Abschnitt lebenswert machen

Wenn Heilung keine Perspektive mehr ist, geht es um Linderung und darum, die letzte Lebensphase so angenehm wie möglich zu gestalten. Eine Herausforderung nicht nur für die Schwerkranken, sondern auch für deren Angehörige, Ärzte und das Gesundheitssystem.

Palliativmedizin – für viele Menschen klingt das nach Lebensende, ja sogar sanfter Hilfe beim Wegschlummern. Tatsächlich unterscheiden sich die Mittel der Palliativmedizin aber nicht von sonstigen Behandlungen, es kommen weder andere Medikamente noch andere medizinische Hilfsmittel zum Einsatz wie sonst auch.

Aber: Die Zielsetzung ist unterschiedlich. Es geht nicht mehr länger um das Bekämpfen einer Krankheit, sondern um das bestmögliche Leben mit ihr. In den Worten der Weltgesundheitsorganisation WHO klingt das so:

«Palliativbetreuung dient der Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit einer lebensbedrohlichen Krankheit konfrontiert sind. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden mittels frühzeitiger Erkennung, hochqualifizierter Beurteilung und Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur.»

Die letzte Lebensphase hat also ganz besondere Ansprüche – an das Umfeld, die Ärzte und ihre Medizin, die Betreuung und Pflege. Nicht überall können diese Ansprüche gleich gut befriedigt werden. Und so stirbt nach wie vor der Grossteil der jährlich 65‘000 Menschen in der Schweiz nicht dort, wo es sich 73 bis 90 Prozent von ihnen wünschen würden – also nicht zu Hause, sondern im Spital oder Pflegeheim.

Fachkräfte schätzen, dass rund 90 Prozent von ihnen begleitet von geschultem Personal problemlos ihrem Wunsch gemäss daheim sterben könnten. Bei den restlichen knapp zehn Prozent ist palliativmedizinisches Spezialwissen erforderlich, das Sterben zuhause wäre jedoch auch für diese Menschen meist möglich.

Nur ein bis zwei Prozent der Todkranken sind in speziellen Palliativabteilungen besser aufgehoben, weil sich dort ihre Probleme besser lindern lassen. Ob es gelingt, dem Wunsch nach dem Sterbeort zu entsprechen, hängt auch vom Wohnort ab: Während im Tessin bislang nur 13 Prozent zu Hause sterben, sind es im Kanton Appenzell-Innerrhoden immerhin 42 Prozent.

Das Problem liegt laut Gian Domenico Borasio, Arzt und einer der Vordenker der Palliativmedizin, darin, dass das medizinische Wissen heute gross ist – von der Geburt angefangen über all die langen Jahre bis hin zum Tod. Aber über das Sterben an sich ist in der Medizin noch sehr wenig bekannt.

Kein Wunder, richten sich die Ärzte in der Regel doch eher auf das Heilen und damit aufs (Über-)Leben aus. Und so herrscht auch unter Medizinern nach wie vor eine sehr grosse Unsicherheit dieser letzten Lebensphase gegenüber.

Anpassen an die besonderen Ansprüche

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Gian Domenico Borasio, *1962, Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität Lausanne und Lehrbeauftragter für Palliativmedizin der TU München. Dank ihm gehört heute die Begleitung Sterbender für jeden Schweizer und deutschen Medizinstudenten zur Ausbildung. Sein Buch «Über das Sterben» ist ein anerkanntes Standardwerk zum Thema.

Das ist wiederum häufig zum Nachteil des Patienten, der in seinen letzten Wochen oder Tagen dann nicht die optimale Behandlung bekommt.

Beispiel Sauerstoff und Flüssigkeit: In den letzten Lebenstagen wollen die meisten Sterbenden kaum noch etwas zu sich nehmen. Und das ist auch in Ordnung so und hat nichts mit qualvollem Verhungern oder Verdursten zu tun, wie es die Bilder aus der Dritten Welt in unseren Köpfen verankert haben.

Quälendes Durstgefühl am Lebensende hängt laut Borasio vor allem von trockenen Mundschleimhäuten ab, Sauerstoffgabe verstärkt das Problem der Mundtrockenheit – deshalb ist es viel wichtiger, Sterbenden den Mund zu befeuchten als sie an den Tropf zu hängen. Die Trockenheit hat auch ihr Gutes: Es kommt zu weniger Erbrechen, Husten und Verschleimung und zu geringerer Wasseransammlung, beispielsweise in Lunge oder Bauchraum.

Ein Drittel der Menschen am Lebensende leidet an Schmerzen, die behandlungsbedürftig sind und bekämpft werden können, zwei Drittel sind von Übelkeit, Atemnot und Erbrechen beziehungsweise neurologisch-psychiatrischen Symptomen wie Verwirrtheit, Depression oder Ängsten betroffen. Doch viele Ärzte geben Morphin zögerlich, weil sie befürchten, dass es süchtig machen oder gar den Tod beschleunigen könnte – doch das ist wissenschaftlich längst widerlegt.Palliativpatienten, die sich mit stärksten Schmerzen an den Arzt wenden, sollten anders als andere Patienten nicht erst langsam gesteigerte Schmerzmedikamente bekommen, sondern bedarfsgerecht direkt mit dem stärksten und wirksamsten Medikament behandelt werden, so die Idee der palliativen Versorgung.

Das Symptom der Atemnot

Auch Atemnot und gleichzeitig die damit verbundenen Ängste können gut behandelt werden – aber die Behandlung muss schnell einsetzen. Das wirksamste Mittel dagegen ist ebenfalls Morphin, doch genau dem haftet der Mythos an, atemdämpfend zu sein. Viele medizinische Lehrbücher raten deshalb noch heute davon ab, sehr zum Leidwesen um Luft ringender Patienten.

Die Angst vor dem Ersticken wiederum könnten Benzodiazepine gut behandeln – doch diese Medikamente stehen ebenfalls vielfach noch auf der schwarzen Liste bei Atemnot, obwohl auch das längst widerlegt ist. Auf der anderen Seite kann es aber auch geschehen, dass sterbende Patienten zu stark sediert werden. Gerade wenn sie zuvor noch kein Morphin erhalten haben, ist die Standarddosis oft zu hoch – sie schlafen dann nur noch sehr tief und können in ihren allerletzten Tagen nicht mehr am Leben teilnehmen.

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Ärzte und medizinisches Personal müssen sich hier sehr auf ihr Gespür verlassen, denn die Patienten sind oft in der allerletzten Lebensphase nicht mehr ansprechbar. Umso wichtiger ist es, dass die Palliativmedizin zunehmend auch in der Ausbildung der Mediziner verankert ist. Dieses Spezialwissen hilft auch im Falle der Verwirrtheit und Delirs, die viele Menschen in der letzten Lebensphase erleben und die insbesondere für die Angehörigen sehr belastend sein können. Ist das betreuende Personal palliativ gut geschult, kann diesen Zuständen vielfach vorgebeugt werden, denn sie kündigen sich oft durch Verwirrtheit in der Nacht an. Neuroleptika in niedriger Dosis können das Problem jedoch auffangen.

Wunsch und Wirklichkeit: der schnelle Tod

Wie gut sich das Lebensende gestaltet, hängt also stark davon ab, wo der Patient diese Zeit verbringt und wie er betreut wird, denn nur in den seltensten Fällen tritt der Tod schnell und unerwartet ein.

Gerade weil in vielen Fällen über eine längere Zeit absehbar ist, dass ein Mensch an seiner Krankheit sterben wird, wäre die Möglichkeit gegeben, dem Wunsch vieler Menschen nach dem Sterben zuhause zu entsprechen. Doch dazu braucht es ein gutes soziales, familiäres Umfeld – und eine gute Betreuung durch externe Dienste, die jedoch regional sehr unterschiedlich gut ausgebaut sind. Können sich Patienten in den Kantonen Zürich, Basel oder in der Welschschweiz auf ein gutes Angebot stützen, sind die spezialisierten Angebote in der Zentralschweiz deutlich sparsamer gesät.

Gänzlich ausgeliefert sind Patienten in der letzten Lebensphase jedoch nicht. Je früher sie sich mit ihrem Sterben befassen, desto besser können sie es nach ihren Wünschen gestalten:

  • Mit den betreuenden Ärzten einen Termin vereinbaren. Im Vorfeld Fragen notieren, eventuell eine Begleitperson mitnehmen. Es gibt keine dummen Fragen! Eigene Sorgen thematisieren und gezielt nach palliativmedizinischer Begleitung und andern nichtmedizinischen Hilfsmöglichkeiten (Selbsthilfegruppen, Psychologen etc.) fragen.
  • Vorsorgeauftrag erstellen: Jede volljährige, handlungsfähige Person kann für den Fall der Urteilsunfähigkeit einer anderen Person den Vorsorgeauftrag zuteilen, die entscheidet soll, wenn wir dazu nicht mehr in der Lage sind. Muss eigenhändig handschriftlich verfasst oder öffentlich beurkundet sein.
  • Patientenverfügung verfassen: Jede urteilsfähige Person kann festlegen, welche medizinischen Massnahmen für sie in Frage kommen, wenn sie darauf im Akutfall keine Antwort mehr geben kann. Am besten mit vorangefertigten Formularen und nach Beratung ausfüllen.

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