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Vitamin D in der Kritik Präventive Einnahme bringt bei Gesunden nichts

Die präventive Einnahme bringt der gesunden Bevölkerung nichts ausser Kosten. Passt der Bund nun seine Empfehlungen an?

Vitamin D hilft. Davon sind viele Menschen überzeugt. Sei es zur Stärkung der Knochen, zum Ausgleich der fehlenden Sonnenstrahlen in den Wintermonaten – oder einfach zur präventiven Unterstützung des Immunsystems.

Und: Nützt es nichts, so schadet es sicher auch nicht.

So nachhaltig die Begeisterung für das «Sonnenvitamin» ist – aus wissenschaftlicher Sicht gerät seine breite Nutzung immer stärker in die Kritik. Dazu tragen auch die Ergebnisse der kürzlich publizierten Do-Health Studie bei.

Vitamin D hilft nur in spezifischen Fällen

In der grossen internationalen Untersuchung mit über 2500 Teilnehmern stellte sich heraus, dass die präventive Einnahme von Vitamin D nur einer kleinen Untergruppe eine gewisse Verbesserung bei Infektionen brachte.

Insgesamt sind die Resultate ernüchternd. Selbst Heike Bischoff-Ferrari, Hauptautorin der Do-Health Studie und seit Jahren die einflussreichste Vitamin-D-Verfechterin der Schweiz, muss eingestehen, «dass wir insgesamt, bezogen auf alle Studienteilnehmenden, keine signifikanten Unterschiede gesehen haben.»

Thomas Rosemann, Leiter des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Zürich, überrascht das nicht. «Die Studie zeigt erneut, dass Vitamin D bei Menschen höheren Lebensalters nichts bringt bezüglich Knochenbrüche, Herzkreislauf-Erkrankungen oder Immunsystem.» Das füge sich ein in eine ganze Reihe von Studien, die ganz ähnliche Ergebnisse gezeigt hätten. «Die konnten ebenfalls keine positiven Effekte für Vitamin D nachweisen.»

Die Entzauberung für das Vitamin D, das eine lange Erfolgsgeschichte hinter sich hat und jahrzehntelang nur positive Schlagzeilen lieferte.

Das «Sonnenvitamin», das Knochen stärkt

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Zeichnung eines verformten Skeletts
Legende: Wellcome Images

Seit über 100 Jahren weiss man, dass ein Mangel an Vitamin D gefährlich ist.

Während der Industrialisierung litten viele Kinder der armen Bevölkerungsschichten unter Rachitis. Ihre Beine waren verformt, weil sie zu weiche Knochen hatten.

Ein Mittel dagegen fanden die Mediziner im Lebertran. Der Stoff, der gegen Rachitis wirkt, wurde den damals populären Vitaminen zugeordnet und als viertes gefundenes Vitamin (nach Vitamin A, B und C) «Vitamin D» getauft.

Bald wurde erkannt, dass auch Sonnenstrahlen zur Bildung von Vitamin D in der Haut führen. Nun gabe es Sonnentherapie für die Kleinen – auch als Werbeslogan. Ein eigentlicher Sonnenkult setzte ein.

Seit rund 25 Jahren ist bekannt, dass ein Mangel an Vitamin D auch im Alter Knochenschwäche fördern kann. Die Folgen für Ältere: Osteoporose.

Mit Vitamin D wollte man vorsorgen. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV definierte daraufhin vor knapp 10 Jahren, wie gross der Tagesbedarf sein sollte. Die Hoffnung: Weil wir vor allem im Winter weniger an der Sonne sind, soll die ganze Bevölkerung Vitamin D künstlich über Tropfen und Tabletten einnehmen. Menschen ab 60 sogar auch im Sommer.

Vitamin D wurde zum Allheilmittel für alle und alles.

«Ich habe so den Eindruck, jedes Jahrzehnt hat sein Vitamin», meint Thomas Rosemann. «Wir hatten das Vitamin-C-Jahrzehnt, dann wurden die Antioxidantien mit A, C und E in den Himmel gelobt». Bis sich negative Effekte gezeigt hätten und es mit bestimmten Vitaminen teilweise sogar zu häufigeren Erkrankungen kam. «Und jetzt sind wir im Zeitalter des Vitamin D.»

Auch dieses könnte bald zu Ende gehen, denn das Image vom Supervitamin bröckelt sichtlich.

Wir hatten das Vitamin-C-Jahrzehnt, dann wurden die Antioxidantien mit A, C und E in den Himmel gelobt, und jetzt sind wir im Zeitalter des Vitamin D.
Autor: Thomas Rosemann Leiter Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich

Zwar zeigen einige Studien gewisse Effekte bei Erkrankungen der oberen Atemwege. Immer mehr Übersichtsstudien aber kommen zum Schluss: Bei gesunden, aktiven Menschen – auch älteren – bringt vorsorgliches Vitamin D nichts.

Diese Botschaft ist aber noch nicht angekommen, oder sie wird ignoriert.

Der Handel mit Vitamin D Präparaten nimmt zu

Die Folge dieser Vitamin-D-Gläubigkeit: Immer mehr Menschen wollen ihren Vitamin-D-Spiegel im Blut bestimmen lassen. Das zeigt eine aktuelle Studie des Swiss Medical Board, durchgeführt am Institut für Hausarztmedizin und Community Care Luzern.

«2018 haben rund 20 Prozent der Bevölkerung so einen Test gemacht. 2015 waren es noch 14 Prozent», weiss Forschungsleiter Stefan Essig. «Das ist ein Anstieg um beinahe 50 Prozent innerhalb von drei Jahren.»

Überraschend ist besonders der Anstieg bei jüngeren Patienten: «Vor allem 30- bis 40-Jährige haben fast 70 Prozent mehr Tests bekommen. Und da sie in so wenigen Jahren unmöglich so viel kränker werden konnten, weist das eher auf eine Überversorgung hin.»

Eine Überversorgung, die unter dem Strich ins Geld geht.

Christoph Merlo ist nicht nur Studienautor und Institutsleiter, sondern auch Hausarzt. Zwar war ihm bewusst, dass der Vitamin-D-Labortest teuer ist, wie viel die Krankenkassen aber jedes Jahr dafür zahlen, konnte er kaum glauben. «90 Millionen Franken. Das habe ich wirklich nicht erwartet.»

90 Millionen für Untersuchungen, die in den meisten Fällen gar nichts bringen. Die Studienautoren fordern ein Umdenken bei den Ärzten. «Es ist sinnvoll, künftig bei der Behandlung und Kontrolle auf die Risikopatienten zu fokussieren und bei den anderen zurückhaltend zu sein», meint Christoph Merlo.

Für wen lohnen sich die Vitamin D Prophylaxen?

Gefordert werden also weniger Vitamin-D-Messungen. Wer aber soll weiterhin Vitamin D als Prophylaxe einnehmen?

Gefährdet sind neben Kranken vor allem ältere Menschen, die kaum im Freien sind, also Heimbewohner, aber auch Schwangere, Babys, Übergewichtige und Menschen mit dunkler Haut.

Der Grossteil der Bevölkerung muss also aus wissenschaftlicher Sicht kein Vitamin D schlucken. Trotzdem empfiehlt der Bund weiterhin zusätzliches Vitamin D für die breite und gesunde Bevölkerung.

Auch Heike Bischoff-Ferrari – vor zehn Jahren Autorin dieser Empfehlung – hält trotz der zwischenzeitlichen Erkenntnisse und der ernüchternden Resultate der eigenen Studie an den Empfehlungen fest.

Für viele Wissenschaftler sind die Vitamin-D-Empfehlungen des BLV nach dem Motto «lieber zu viel als zu wenig» aber nicht mehr zeitgemäss.

Christian Merlo plädiert für ein Überdenken der Empfehlungen im Licht der Erkenntnisse der letzten Jahre.

Thomas Rosemann geht noch einen Schritt weiter und wird deutlich: «Wenn die BLV-Empfehlungen auf einer wissenschaftlichen Datenbasis gründen, muss man zum Schluss kommen, dass die nicht vorhanden ist. Und daran wird sich – das haben die letzten grossen Studien gezeigt – nichts mehr ändern.»

«Mit Vitamin D ist man sicher nicht vor Covid geschützt»

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Standbild aus PULS Interview mit Philipp Schütz
Legende: SRF

Der Stoffwechselexperte Philipp Schütz ist Präsident der eidgenössischen Ernährungskommission EEK. Im Gespräch mit Daniela Lager nimmt er im «Puls»-Studio Stellung zu den neuen Erkenntnissen rund um Vitamin D und zur Frage, ob Vitamin D einen positiven Effekt auf Covid-Infektionen hat.

SRF: «Puls» wollte vom BLV wissen, warum man allen Erkenntnissen zum Trotz an den Empfehlungen festhält und wurde an die EEK verwiesen, deren Präsident Sie seit April 2020 sind. Gehen Sie jetzt bei den Empfehlungen für die Vitamin-D-Prophylaxe über die Bücher?

Philip Schütz: Das ist richtig, wir müssen über die Bücher. Wie immer, wenn neue Studien herauskommen und neue Evidenz auftaucht. Das Ziel der Vitamin-D-Strategie ist es, bei der vulnerablen Bevölkerung keine Menschen mit Vitamin-D-Mangel zu haben. Die Do-Health Studie hat hingegen mehr untersucht, ob höhere Vitamin-D-Dosen in einer relativ gesunden Bevölkerung noch mehr bringen. Ich glaube, da hat man gesehen, dass mehr nicht mehr bringt.

Die Studie zeigt aber doch, dass die Mehrheit der Leute, die aufgrund der Bundesamts-Empfehlungen Vitamin D schlucken, gar nichts davon haben – ausser Kosten.

Wichtig ist immer, mit was wir vergleichen.

Es hat ja Kontrollgruppen gegeben.

Ja. Aber die Kontrollgruppe hat einen relativ hohen Vitamin-D-Spiegel gehabt. Da gab es nur ganz wenige Leute mit einem Mangel. Schaut man die Schweizer Bevölkerung an – gerade die ältere – sieht man eben, dass ein hoher Anteil gerade in den Wintermonaten nicht genug sonnenexponiert ist und eine relevante Menge von Menschen einen Mangel hat. Und das ist eigentlich das Ziel der Strategie, das beheben zu können.

Die Do-Health Studie nimmt für sich in Anspruch, repräsentative Gruppen ausgewählt zu haben. In welchem Zeitrahmen werden Sie denn mal sagen, wie es weitergeht mit dem Vitamin D?

Die Studie ist relativ neu. Wir haben auch noch nicht all die Subgruppen und alles genau gesehen. In der EEK werden wir jetzt sicher erst einmal diese Daten prüfen und kritisch hinterfragen. Ich denke, innerhalb der nächsten drei Monate wird man sich überlegen, ob es eine Anpassung braucht oder nicht.

Verfechter der Vitamin-D-Prophylaxe sagen, man decke mit dieser Empfehlung für alle auch unbekannte Risiken ab, also Leute, die gar nicht wissen, dass sie einen Mangel haben. Man schiesst also quasi mit Kanonen auf Spatzen, in der Hoffnung, man erwische ein paar mehr, die einen Mangel haben…

Das ist bei jeder Gesundheitsempfehlung so. Von der Empfehlung, nicht zu viel Salz zu konsumieren, profitiert auch nicht jeder in der Schweiz.

Das kostet einen aber wenigsten nichts. Bei der regelmässigen Einnahme von Vitamin D kommt mit der Zeit aber ein ganz schönes Sümmchen zusammen.

Vergleicht man sonstige Medikamentenpreise mit den rund 10 Rappen pro Tag für Vitamin D, sind wir in einem Bereich, wo die Kosten sehr tief sind. Auf der anderen Seite: Wenn wir Knochenbrüche und osteoporotische Frakturen verhindern können, haben wir eine unglaublich kostentreibende Erkrankung verhindert. Da müsste man schon genau über die Bücher, ob das nicht eine kostensenkende Massnahme ist.

Nun ist Vitamin D plötzlich auch als Abwehr gegen eine Coronainfektion ins Gespräch gekommen. Das meint Sven Streit, der Spezialist in der Covid-19-Taskforce des Bundes dazu.

«Es gibt viele Studien und Versuche, um zu zeigen, dass es einen Zusammenhang gibt, einen Schutz mit Vitamin D vor Covid. Das Problem ist, dass es für die Studienresultate auch andere Erklärungen geben kann. So hat man zum Beispiel geschaut, ob es in Ländern mit einem hohen Vitamin-D-Spiegel weniger Covid-Infektionen gibt. Gleichzeitig beobachten wir von der Taskforce mit einiger Sorge, dass Länder wie zum Beispiel Grossbritannien, wo man Vitamin D gratis an ältere Leute abgegeben hat, eine hohe Sterblichkeit zeigen. Im Moment gibt es viele Studien über Vitamin D und Covid-19, und keine gibt den harten Beweis, dass es nützt, dies so einzusetzen.»

Herr Schütz: Die Taskforce sagt, «noch zu wenig Evidenz für eine klare Aussage». Sehen Sie das auch so?

Absolut richtig. Es fehlt die grosse Studie mit zehntausend Patienten, die beweist, dass Vitamin D tatsächlich die Covid-Veläufe weniger schlimm macht. Auf der anderen Seite wissen wir, dass Patienten mit Covid, die einen Vitamin-D-Mangel haben, sehr schwere Verläufe machen. Dass sie besonders gefährdet sind.

Aber wir haben gerade gehört, dass es in Grossbritannien, wo grosszügig Vitamin D an ältere Menschen abgegeben wird, gar nichts gebracht hat. Dort haben sie sehr viel Tote mit hohem Vitamin-D-Spiegel.

Da spielen noch viele weitere Faktoren mit, zum Beispiel hat man in Grossbritannien ganz ein anderes Gesundheitssystem.

Es braucht also eine saubere Studie, um die Frage zu klären.

Genau. In den USA läuft aktuell eine sehr grosse Studie, wo wir in drei bis sechs Monaten vielleicht Resultate haben. Die Frage ist: Was machen wir bis dann? Wenn jemand Vitamin D einnimmt und daran glaubt, würde ich ihm das sicher nicht ausreden. Ich würde es auch nicht aktiv empfehlen. Und sicher darf man nicht das Gefühl haben, mit der Vitamin-Einnahme vor Covid geschützt zu sein.

Stichwort «empfehlen»: Können Sie abschliessend doch noch etwas genauer sagen, wann mit die neuen Empfehlungen Ihrer Kommission an das BLV gehen?

Wir werden das sicher in den nächsten drei Monaten machen. Es gibt auch noch neuere Studiendaten zu Covid, die wir aktuell ebenfalls prüfen. Da wird es dann auch ein Statement geben.

Puls, 25.01.2021, 21:05 Uhr

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