Nebelfetzen liegen über dem Weiler Weissenried. Der Pick-up von Manfred Ebener steuert langsam über den holprigen Waldweg Richtung Blatten. Er ist auf der Notstrasse unterwegs. Sie steht symbolhaft für den Wiederaufbau von Blatten.
Noch ist das Lötschental nicht am Ende.
«Wir arbeiten mit aller Kraft, damit Blatten eine Zukunft hat», sagt Ebener, der den Bau der Strasse leitet. «Vorne hat ein Team den Wald gerodet, dahinter hat das zweite Team die Strasse planiert.» Ohne diese Verbindung sei der Wiederaufbau von Blatten «unmöglich», so Ebener. Denn auf dem Luftweg können schwere Maschinen nicht transportiert werden. Und die braucht es, um gegen den meterhohen Schutt anzukommen.
Notstrasse – ein wichtiges Lebenszeichen
Beifahrer Lukas Kalbermatten hat bei der Katastrophe sein Hotel verloren, doch ans Aufgeben denkt er nicht. «Noch ist das Lötschental nicht am Ende.» Der Wiederaufbau sei zwar eine Riesenaufgabe, aber «ein Lötschental ohne Blatten ist nicht vorstellbar», so Kalbermatten.
Zuversicht gibt ihm nicht zuletzt auch die Lage in den unversehrten Weilern Weissenried und Eisten. «Dort ist schon nächstes Jahr eine Rückkehr möglich», denn mit der Notstrasse sei auch die Telekommunikation und die Strom- und Wasserversorgung wiederhergestellt worden. Seit Kurzem liefern die Blattner Wasserkraftkraftwerke wieder Strom.
Kurz vor Blatten führt die Notstrasse direkt durch den steilen Schuttkegel. Der Untergrund besteht aus einem feinen Fels-Eis-Gemisch, das instabil ist. «Bei Regen kann das Material viel Wasser aufnehmen und der Hang könnte sich dann verflüssigen», warnt Ebener. Darum musste die Strasse hier mit Stahlwänden und Felsankern gesichert werden.
Auf dem Schuttkegel tragen Bagger und Bulldozer das Geröll weiter ab. Eine Mammutaufgabe. Aber entscheidend, damit später die Kantonstrasse neu gebaut werden kann. Denn ohne die Kantonsstrasse wird es kein neues Blatten geben, da sind sich alle einig. Wie viel und wo genau der Schutt weg muss, ist allerdings noch unklar. Klar ist nur: «Alles kann sicher nicht abgetragen werden», so Ebener, dafür sei die Menge viel zu gross.
Die Blattner haben noch einen langen Weg vor sich, andere Dörfer, die von Naturkatastrophen getroffen wurden, sind da schon etwas weiter. Zum Beispiel Brienz im Berner Oberland.
Brienz BE ein Jahr nach der Katastrophe
Im August 2024 hat ein gewaltiger Murgang im Mühlibach Teile von Brienz verwüstet. Mit viel Glück gab es keine Todesopfer, doch der Sachschaden war riesig.
Die Narben an der Infrastruktur sind noch heute sichtbar. Mittlerweile ist das ursprüngliche Bachbett zwar wieder gesichert, aber das reicht nicht, würde es erneut zu einem Extremereignis kommen. Kurzfristig braucht es ein gutes Alarm- und Notfallkonzept, um die Bevölkerung rechtzeitig evakuieren zu können. Und langfristig umfangreiche Schutzbauten.
Um den Bach dauerhaft zu zähmen, prüft man unter anderem eine Verschiebung des Bachbettes.
Klar ist, dass auch bei dieser Variante Häuser und private Grundstücke den Schutzbauten weichen müssen. «Die Schwierigkeit liegt in den unterschiedlichen Situationen der Betroffenen», betont Projektleiterin Jana Hess. «Wir haben Leute, die ihr Haus verloren haben und im Moment nicht wieder aufbauen können.» Andere können hingegen mit der Planung des Wiederaufbaus beginnen.
Wir müssen das bislang Undenkbare genauer anschauen.
«Mein Eindruck ist, dass die Mehrheit der Betroffenen wieder an den Mühlibach zurückkehren möchte.» Es sei momentan ein Abwägen, wie lange die Rückkehr noch dauere und wie vertretbar die Zwischenlösung sei, erläutert Hess. Mindestens fünf Jahre wird es dauern, bis erste Arbeiten an den Schutzbauten beginnen werden. «Wichtig war, dass wir den Betroffenen, relativ schnell nach dem Ereignis Zukunftsperspektiven aufzeigen konnten», das habe auch etwas «Heilendes» gehabt, meint Hess.
Und welche Lehren zieht sie aus dem Ereignis von Blatten? «Wir müssen das bislang Undenkbare genauer anschauen.» Mit dem Undenkbaren ist der Worst Case gemeint, der auch in Blatten eingetreten ist.
Blatten ausgraben?
Im Katastrophengebiet hat die Absenkung des Sees momentan höchste Priorität.
Das soll in den nächsten Monaten geschehen. Dann stellt sich die Frage: Soll man versuchen, Teile des alten Blattens auszugraben? «Für uns ist es wichtig zu sehen, was unter dem Meter hohen Schutt liegt», erläutert Manfred Ebener. «Vielleicht ist die Zerstörung so riesig, dass wir das Kapitel abschliessen müssen, und zwar für immer.»
Ich will wieder in Blatten wohnen, aber nicht um jeden Preis.
Hotelier Lukas Kalbermatten hat durch die Katastrophe alles verloren. Sein Hotel Edelweiss wurde komplett zerstört. «Drei Generationen haben diesen Familienbetrieb geführt», erzählt Kalbermatten wehmütig, wenige Meter vor der Ruine seines Hotels.
«Und nun ist alles weg.» Trotzdem träumt er von einer Rückkehr. «Ich will wieder in Blatten wohnen, aber nicht um jeden Preis.»
Mehrheit will Wiederaufbau nicht
Eine repräsentative Umfrage zeigte kürzlich, dass sich die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung gegen einen Wiederaufbau von Blatten ausspricht. Lukas Kalbermatten hat dafür nur wenig Verständnis. «Hier, wo wir stehen, das ist mein Grund und Boden.» Die Gemeinde sei rechtlich verpflichtet, diesen Boden wieder bewohnbar zu machen, so Kalbermatten.
Ins gleiche Horn bläst auch der Gemeindepräsident von Blatten, Matthias Bellwald: «Wir haben das Recht, hier zu wohnen. Unsere Väter und Grossväter haben schon hier gewohnt.» Sie hätten schon immer mit den Naturgefahren hier im Tal gelebt und werden es auch zukünftig tun. «Es kommt nicht infrage, das Tal zu entvölkern.»
Brienz GR: Zerfall eines Berges – und einer Dorfgemeinschaft
Soll man ein von Naturgefahren bedrohtes Dorf für immer entvölkern? Diese Frage müssen sich auch die Menschen in Brienz GR stellen.
Das Dorf ist von einer Rutschung und einem Bergsturz bedroht, die Bewohner sind momentan evakuiert, eine Umsiedlung steht im Raum. «Viele sind so weit und verlassen das Dorf», erzählt Georgin Bonifazi. Seine Frau und er möchten hingegen bleiben: «Man kann es sich nicht vorstellen, dass man plötzlich nicht mehr da ist», sagt Anette Bonifazi.
Man hat sich komplett auseinandergelebt.
Drei Gebiete wurden für die Umsiedlung ausgesondert, aber nur eines davon liegt erhöht auf einer Sonnenterrasse. Kein Wunder, wollen alle nur dorthin. Wer kann auf welcher Parzelle bauen? Und wie wird entschädigt?
Die evakuierten Einwohnerinnen und Einwohner von Brienz leben im ganzen Kanton verstreut, der Zusammenhalt im Dorf schwindet. «Man hat sich komplett auseinandergelebt», stellt Georgin Bonifazi fest.
Dass die Dorfgemeinschaft zerbricht, droht auch in Blatten. Noch ist es aber nicht so weit. Im Gegenteil. Das betonte Matthias Bellwald an der letzten Gemeindeversammlung: «Ich denke, dass für sehr viele das Herz für Blatten sehr stark schlägt. Ein Indikator ist jetzt gerade, wie aktiv die Vereine sind.» Infrastruktur aufbauen sei das eine, aber auch das Soziokulturelle sei ein wichtiger Aspekt, so Bellwald.
Das Nesthorn bleibt in Bewegung
Auf der Rückfahrt von Blatten nach Weissenried halten Ebener und Kalbermatten nochmals an. Vom Nesthorn ist ein ständiges Rumpeln und Grollen zu hören. Der Berg ist bis heute nicht zur Ruhe gekommen. Permanenter Steinschlag gefährdet die Arbeiten auf dem Kegel.
Die neue Gefahrenbeurteilung des Gebietes ist in Arbeit. «Erst mit dieser neuen Gefahrenkarte weiss man, wo es in und um Blatten zukünftig noch sicher ist, wo gebaut werden darf», erläutert Ebener. Die Gefahrenkarte wird noch im Oktober erwartet und wird die Weichen für den Wiederaufbau von Blatten stellen.