80 Jahre nach dem Atomschlag - Nagasaki: Was bleibt im Körper, der Psyche und der Gesellschaft?
Die Atombomben über Japan hinterliessen körperliche und psychische Spuren, sogar über Generationen hinweg. Wie Strahlung, Trauma und Resilienz zusammenhängen – und was wir daraus lernen können.
Wie wirkt so eine Katastrophe noch Jahrzehnte später auf den menschlichen Körper? Antworten liefert die Life Span Study.
Eine der bedeutendsten medizinischen Studien
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Legende:
Japanischer Überlebender der Atombombe von Nagasaki.
imago images/Everett Collection
Seit 1950 begleitet die sogenannte Life Span Study über 100’000 Überlebende. Sie liefert bis heute zentrale Erkenntnisse über die Folgen ionisierender Strahlung – jener Strahlung, die bei Atombombenexplosionen freigesetzt wird, Atome verändert, DNA schädigt und Zellen zerstört.
Für jede überlebende Person wurde eine individuelle Strahlendosis abgeschätzt – also ermittelt, wie viel Strahlung sie vermutlich aufgenommen hat. Diese Daten werden mit jenen von Menschen verglichen, die keiner Strahlung ausgesetzt waren.
Heute lassen sich auf dieser Grundlage die gesundheitlichen Risiken in Abhängigkeit von der Strahlendosis mit bemerkenswerter Genauigkeit vorhersagen.
Schon kurz nach dem Abwurf treten besonders bei Kindern in der Nähe des Abwurfs auffällig viele Leukämiefälle auf. Etwas später registrieren Forschende auch vermehrt Tumore an Organen. Heute gehen die Erkenntnisse über Krebs hinaus.
Krebs nicht einziges Risiko
«Wir wissen, dass es auch bei kardiovaskulären Erkrankungen wie Schlaganfall oder Herzinfarkt einen Anstieg gibt», so Anna Friedl, Strahlenschutzexpertin an der Uniklinik München. Diese Effekte zeigten sich erst mit Verzögerung und seien bis heute nicht vollständig verstanden. Und: Es gebe Hinweise auf ein erhöhtes Diabetesrisiko. Warum? Das ist noch offen.
Strahlung – was wirkt wie?
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Legende:
imago images
Ionisierende Strahlung hat genug Energie, um Elektronen aus Atomen zu lösen
Sie kann DNA-Schäden verursachen, was zu Mutationen und Krebs führen kann
Alpha-, Beta- und Gammastrahlung unterscheiden sich in Reichweite und Durchdringungskraft
Besonders gefährlich: hohe Dosis auf kurzen Zeitraum
Kinder und Frauen sind statistisch anfälliger für strahlenbedingte Erkrankungen
Auch psychisch hinterlässt die Bombe Spuren. Viele Überlebende litten – und leiden – unter schweren seelischen Belastungen. Symptome wie Flashbacks und Angstzustände prägten oft lebenslang den Alltag, so Andreas Maercker, Professor für Psychologie an der Universität Zürich. Er forscht unter anderem zu kollektiven Traumata.
Dazu komme soziale Stigmatisierung: Menschen werden gemieden – als wären sie gefährlich. Heirat, Arbeit, Zugehörigkeit blieben ihnen oft verwehrt. «Diese Diskriminierung ist nochmal ein starker Treiber für psychische Erkrankungen. Sie verhindert, dass sich Wunden schliessen», so Maercker.
Was Trauma mit uns macht – 5 Fragen an Andreas Maercker
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Legende:
Traumaforscher Andreas Maercker
uzh
Warum ist das Trauma von Hiroshima so langwirksam?
Weil es nie «nur» das Ereignis war. Die Überlebenden wurden gleich mehrfach getroffen: durch die Gewalt der Explosion, die anschliessende Strahlenkrankheit – und durch die soziale Ausgrenzung danach. Diese Mehrfachbelastung wirkt besonders tief.
Gibt es Unterschiede zu anderen Katastrophen?
Ja. Hiroshima war eine kollektive Erfahrung, die eine ganze Stadt – ja, eine ganze Gesellschaft – betroffen hat. Das prägt anders als ein individuelles Trauma. Gleichzeitig fehlte damals jegliche psychologische Unterstützung.
Warum litten viele Überlebende doppelt?
Viele wurden stigmatisiert, als «verstrahlt» oder «unrein» wahrgenommen. Sie hatten Mühe, Partner zu finden, Jobs zu bekommen, Kinder zu adoptieren. Diese soziale Diskriminierung war ein zweites Trauma – eines, das sich nicht medizinisch behandeln lässt. Hinzu kamen massive Sinneseindrücke, die sich tief ins Gedächtnis brannten.
Viele Überlebende berichten noch Jahrzehnte später von Erinnerungen an den Geruch von verbranntem Fleisch – ein Bild, das sich kaum je abschütteln lässt.
Wie zeigt sich Resilienz bei den Überlebenden?
Einige begannen, öffentlich über das Erlebte zu sprechen, reisten durch Schulen oder an internationale Konferenzen. Sie gaben ihrem Leiden eine Stimme und einen Sinn. Das hilft oft, um das Geschehene einzuordnen.
Was können wir heute daraus lernen?
Gesellschaften müssen Räume schaffen, in denen über Trauma gesprochen werden darf – ohne Scham, ohne Stigmatisierung. Und sie müssen auch das Potenzial erkennen, das in der Weitergabe von Erfahrungen liegt: zur Aufklärung, zur Prävention, zur Menschlichkeit.
«Trauma und Resilienz können nebeneinander existieren. Es gibt Menschen, die unter Depressionen leiden und trotzdem sagen: Ich habe überlebt, um etwas weiterzugeben», so Maercker.
Vererbte Erinnerung
Die Neurowissenschaftlerin Isabelle Mansuy erforscht an der ETH und Universität Zürich mithilfe von Mausmodellen, wie traumatische Erfahrungen auf das Erbgut wirken. Werden junge Mäuse traumatischem Stress ausgesetzt, etwa durch Trennung von der Mutter, zeigen sie später auffälliges Verhalten und gesundheitliche Probleme. Überraschend: Die Veränderungen treten auch bei nachfolgenden Generationen auf, obwohl diese keinen Stress erlebt hatten.
Epigenetik und Trauma – Erkenntnisse aus der Mausforschung
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Epigenetik bezeichnet Veränderungen der Genregulation durch interne oder externe (Umwelt-)Einflüsse.
Nicht die Gene (DNA-Sequenz) selbst verändern sich, sondern deren Aktivität.
Dies geschieht durch chemische Veränderungen auf der DNA.
In einem Tiermodell wurden junge Mäuse frühem Trauma ausgesetzt (Trennung von der Mutter und unvorhersehbare Stresssituationen).
Auch die Folgegenerationen zeigten auffällige Verhaltensmuster wie Ängstlichkeit, Antriebslosigkeit und Probleme mit Artgenossen.
Chemische Veränderungen auf der DNA, sogenannte epigenetische Marker,konnten unter anderem im Sperma der Männchen nachgewiesen werden.
Die Übertragung der Veränderungen an Folgegenerationen scheint über die Keimbahn möglich.
Die Ergebnisse zeigten, wie tief frühe Traumata biologisch wirken können. Ein Hoffnungsschimmer: «Auch Resilienz kann epigenetisch vererbt werden», sagt Mansuy. Entscheidend sei der Umgang mit dem Erlebten. Das heisst: Nicht nur das Trauma, auch der Umgang damit kann Spuren hinterlassen – womöglich heilende.
Lehren für die Zukunft
80 Jahre nach Hiroshima ist klar: Traumata prägen tiefgreifender, als je vermutet. Sie hinterlassen Spuren in der Gesundheit, im Gefüge der Gesellschaft, in Erinnerung und Identität.
Doch die Forschung bietet auch Werkzeuge: Wer die Folgen versteht, kann besser vorbeugen, anders begleiten und heilen. Hiroshima und Nagasaki sind Vergangenheit – und dennoch mahnen sie, Langzeitfolgen von Krisen ernst zu nehmen.