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80 Jahre nach dem Atomschlag Nagasaki: Was bleibt im Körper, der Psyche und der Gesellschaft?

Die Atombomben über Japan hinterliessen körperliche und psychische Spuren, sogar über Generationen hinweg. Wie Strahlung, Trauma und Resilienz zusammenhängen – und was wir daraus lernen können.

Am 6. August 1945 um 8.15 Uhr explodiert über Hiroshima die erste Atombombe, die je im Krieg eingesetzt wurde. Drei Tage später trifft Nagasaki das gleiche Schicksal. Rund 200'000 Menschen sterben. Doch die Katastrophe endet nicht mit dem Kriegsende. Acht Jahrzehnte später wirkt sie noch immer nach: In Zellen, in Erinnerungen, in Generationen.

Wie wirkt sich eine Explosion dieser Art langfristig auf den menschlichen Körper aus? Welche sichtbaren und unsichtbaren Spuren hinterlässt sie – selbst Jahrzehnte nach dem Abwurf?

Langfristige Auswirkungen

Antworten darauf liefert eine der bedeutendsten medizinischen Langzeitstudien der Welt: Seit 1950 begleitet die Life Span Study über 100'000 Überlebende und dokumentiert die langfristigen Auswirkungen der Strahlung.

Eine der bedeutendsten medizinischen Studien

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Ein Überlebender der Atombombe auf Nagasaki.
Legende: Japanischer Überlebender der Atombombe von Nagasaki. imago images/Everett Collection

Seit 1950 begleitet die Life Span Study über 100’000 Überlebende. Sie liefert bis heute zentrale Erkenntnisse über die Folgen ionisierender Strahlung – jener Strahlung, die bei Atombombenexplosionen freigesetzt wird, Atome verändert, DNA schädigt und Zellen zerstört.

Für jede überlebende Person wurde eine individuelle Strahlendosis abgeschätzt – also ermittelt, wie viel Strahlung sie vermutlich aufgenommen hat. Diese Daten werden mit jenen von Menschen verglichen, die keiner Strahlung ausgesetzt waren.

Heute lassen sich auf dieser Grundlage die gesundheitlichen Risiken in Abhängigkeit von der Strahlendosis mit bemerkenswerter Genauigkeit vorhersagen.

Ionisierende Strahlung – wie sie bei einer Atombombenexplosion freigesetzt wird – verändert Atome im Körper, schädigt DNA, zerstört Zellen. Schon wenige Jahre nach dem Abwurf zeigte sich: Vor allem Kinder in der Nähe des Explosionszentrums erkrankten auffällig häufig an Leukämie. Später traten vermehrt auch solide Tumoren auf – etwa an inneren Organen.

Das bestätigt auch Anna Friedl, Strahlenschutzexpertin an der Klinik für Strahlentherapie der Universität München. Sie erforscht seit Jahren die biologischen Langzeitfolgen atomarer Strahlung: «Gerade bei Kindern sah man sehr früh viele Leukämiefälle – später dann auch Organ-Tumoren.» Inzwischen weiss man: Die Folgen reichen weit über Krebs hinaus.

Krebs nicht einziges Risiko

«Wir wissen, dass es auch bei kardiovaskulären Erkrankungen wie Schlaganfall oder Herzinfarkt einen Anstieg gibt.» Diese Effekte zeigten sich erst mit Verzögerung und seien bis heute nicht vollständig verstanden. Und: Es gebe Hinweise auf ein erhöhtes Diabetesrisiko. Warum? Das ist noch offen.

Was ist ionisierende Strahlung – und warum ist sie gefährlich?

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Ein Warnschild warnt vor Radioaktivität.
Legende: imago images
  • Ionisierende Strahlung ist so energiereich, dass sie Elektronen aus Atomen im Körper lösen kann – dadurch werden Zellen verändert oder geschädigt.
  • Sie kann die DNA beschädigen – das Erbgut in unseren Zellen. Dadurch kann es zu Mutationen kommen, die später Krankheiten wie Krebs auslösen.
  • Es gibt verschiedene Arten von Strahlung: Alpha-, Beta- und Gammastrahlung. Sie unterscheiden sich darin, wie weit sie reicht und wie tief sie in den Körper eindringen kann.
  • Besonders gefährlich ist eine hohe Strahlendosis in kurzer Zeit – etwa bei einer Atomexplosion oder einem Reaktorunfall.
  • Kinder und Frauen sind laut Studien anfälliger für strahlenbedingte Krankheiten als erwachsene Männer – ihr Körper reagiert empfindlicher auf Strahlung.

Nicht nur körperlich, auch psychisch hinterliess die Bombe Spuren. Viele der Überlebenden litten – und leiden – an schweren seelischen Belastungen. «Diese Menschen haben nicht nur Angst vor der Vergangenheit. Sie fürchten auch, dass alles wiederkommen könnte», so Andreas Maercker, Professor für Psychopathologie und Klinische Intervention an der Universität Zürich. Er forscht seit Jahrzehnten zu den Folgen kollektiver Traumatisierung.

Flashbacks, Angstzustände, Erinnerungen an Gerüche verbrannter Körper – das alles begleitete die Überlebenden tagtäglich.

Stigmatisierung als Trauma-Treiber

Nicht nur das Erlebte traumatisierte – auch das, was danach kam: Jahrzehntelange gesellschaftliche Ausgrenzung. Überlebende wurden als potenziell gefährlich wahrgenommen. Als wären sie selbst noch verstrahlt.

Heirat, Arbeit, Integration blieb vielen verwehrt. «Diese Diskriminierung ist ein grosser Treiber für psychische Erkrankungen. Und sie verhindert, dass sich die Wunden schliessen», so Maercker.

Was Trauma mit uns macht – 5 Fragen an Andreas Maercker

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Ein grauhaariger Mann lächelt in die Kamera.
Legende: Traumaforscher Andreas Maercker uzh

Warum ist das Trauma von Hiroshima so langwirksam?

Weil es nie «nur» das Ereignis war. Die Überlebenden wurden gleich mehrfach getroffen: durch die Gewalt der Explosion, die anschliessende Strahlenkrankheit – und durch die soziale Ausgrenzung danach. Diese Mehrfachbelastung wirkt besonders tief.

Gibt es Unterschiede zu anderen Katastrophen?

Ja. Hiroshima war eine kollektive Erfahrung, die eine ganze Stadt – ja, eine ganze Gesellschaft – betroffen hat. Das prägt anders als ein individuelles Trauma. Gleichzeitig fehlte damals jegliche psychologische Unterstützung.

Warum litten viele Überlebende doppelt?

Viele wurden stigmatisiert, als «verstrahlt» oder «unrein» wahrgenommen. Sie hatten Mühe, Partner zu finden, Jobs zu bekommen, Kinder zu adoptieren. Diese soziale Diskriminierung war ein zweites Trauma – eines, das sich nicht medizinisch behandeln lässt. Hinzu kamen massive Sinneseindrücke, die sich tief ins Gedächtnis brannten.

Viele Überlebende berichten noch Jahrzehnte später von Erinnerungen an den Geruch von verbranntem Fleisch – ein Bild, das sich kaum je abschütteln lässt.

Wie zeigt sich Resilienz bei den Überlebenden?

Einige begannen, öffentlich über das Erlebte zu sprechen, reisten durch Schulen oder an internationale Konferenzen. Sie gaben ihrem Leiden eine Stimme und einen Sinn. Das hilft oft, um das Geschehene einzuordnen.

Was können wir heute daraus lernen?

Gesellschaften müssen Räume schaffen, in denen über Trauma gesprochen werden darf – ohne Scham, ohne Stigmatisierung. Und sie müssen auch das Potenzial erkennen, das in der Weitergabe von Erfahrungen liegt: zur Aufklärung, zur Prävention, zur Menschlichkeit.

Und doch: Die Geschichte endet nicht nur in Ohnmacht: Viele Überlebende haben in ihrem Leiden Sinn gefunden, sich als Mahner:innen gegen Atomwaffen engagiert – und wurden dafür als Teil der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

«Trauma und Resilienz können nebeneinander existieren. Es gibt Menschen, die unter Depressionen leiden und trotzdem sagen: Ich habe überlebt, um etwas weiterzugeben.»

Vererbte Erinnerung

Die Neurowissenschaftlerin Isabelle Mansuy erforscht an der ETH und Universität Zürich mithilfe von Mausmodellen, wie traumatische Erfahrungen auf das Erbgut wirken. Werden junge Mäuse traumatischem Stress ausgesetzt, etwa durch Trennung von der Mutter, zeigen sie später auffälliges Verhalten: Sie sind ängstlicher, weniger stressresistent, sozial gehemmt.

Das Überraschende: Diese Veränderungen zeigen sich nicht nur bei den direkt betroffenen Tieren, sondern auch in den nachfolgenden Generationen – selbst wenn diese keinen direkten Stress erlebten. Die Marker liessen sich unter anderem im Sperma der Männchen nachweisen.

Auch Resilienz kann weitergegeben werden

«Die Ergebnisse lassen sich nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen. Aber sie liefern Hinweise darauf, wie stark frühe Traumata biologische Spuren hinterlassen können – und wie diese über Generationen weiterwirken», so Mansuy.

Aber auch Resilienz kann epigenetisch vererbt werden. Es komme darauf an, so die Neurowissenschaftlerin, wie eine Gesellschaft, wie eine Familie mit dem Erlebten umgehe.

Ein vorsichtiger Hoffnungsschimmer also: Nicht nur das Trauma, auch der Umgang damit kann Spuren hinterlassen – vielleicht sogar heilsame.

Epigenetik und Trauma – Erkenntnisse aus der Mausforschung

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  • Epigenetik bezeichnet Veränderungen der Genregulation durch interne oder externe (Umwelt-)Einflüsse.
  • Nicht die Gene (DNA-Sequenz) selbst verändern sich, sondern deren Aktivität.
  • Dies geschieht durch chemische Veränderungen auf der DNA.
  • In einem Tiermodell wurden junge Mäuse frühem Trauma ausgesetzt (Trennung von der Mutter und unvorhersehbare Stresssituationen).
  • Auch die Folgegenerationen zeigten auffällige Verhaltensmuster wie Ängstlichkeit, Antriebslosigkeit und Probleme mit Artgenossen.
  • Chemische Veränderungen auf der DNA, sogenannte epigenetische Marker, konnten unter anderem im Sperma der Männchen nachgewiesen werden.
  • Die Übertragung der Veränderungen an Folgegenerationen scheint über die Keimbahn möglich.

80 Jahre nach Hiroshima ist klar: Traumata prägen tiefgreifender, als je vermutet. Sie hinterlassen Spuren in der Gesundheit, im Gefüge der Gesellschaft, in Erinnerung und Identität.

Doch die Forschung bietet auch Werkzeuge: Wer die Folgen versteht, kann besser vorbeugen, anders begleiten und heilen. Hiroshima und Nagasaki sind Vergangenheit – und dennoch mahnen sie, Langzeitfolgen von Krisen ernst zu nehmen.

Radio SRF 1, Treffpunkt, 7.8.2025, 10:03 Uhr

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