Am 6. August 1945 um 8.15 Uhr explodiert über Hiroshima die erste Atombombe, die je im Krieg eingesetzt wurde. Drei Tage später trifft Nagasaki das gleiche Schicksal. Rund 200'000 Menschen sterben. Doch die Katastrophe endet nicht mit dem Kriegsende. Acht Jahrzehnte später wirkt sie noch immer nach: In Zellen, in Erinnerungen, in Generationen.
Wie wirkt sich eine Explosion dieser Art langfristig auf den menschlichen Körper aus? Welche sichtbaren und unsichtbaren Spuren hinterlässt sie – selbst Jahrzehnte nach dem Abwurf?
Langfristige Auswirkungen
Antworten darauf liefert eine der bedeutendsten medizinischen Langzeitstudien der Welt: Seit 1950 begleitet die Life Span Study über 100'000 Überlebende und dokumentiert die langfristigen Auswirkungen der Strahlung.
Ionisierende Strahlung – wie sie bei einer Atombombenexplosion freigesetzt wird – verändert Atome im Körper, schädigt DNA, zerstört Zellen. Schon wenige Jahre nach dem Abwurf zeigte sich: Vor allem Kinder in der Nähe des Explosionszentrums erkrankten auffällig häufig an Leukämie. Später traten vermehrt auch solide Tumoren auf – etwa an inneren Organen.
Das bestätigt auch Anna Friedl, Strahlenschutzexpertin an der Klinik für Strahlentherapie der Universität München. Sie erforscht seit Jahren die biologischen Langzeitfolgen atomarer Strahlung: «Gerade bei Kindern sah man sehr früh viele Leukämiefälle – später dann auch Organ-Tumoren.» Inzwischen weiss man: Die Folgen reichen weit über Krebs hinaus.
Krebs nicht einziges Risiko
«Wir wissen, dass es auch bei kardiovaskulären Erkrankungen wie Schlaganfall oder Herzinfarkt einen Anstieg gibt.» Diese Effekte zeigten sich erst mit Verzögerung und seien bis heute nicht vollständig verstanden. Und: Es gebe Hinweise auf ein erhöhtes Diabetesrisiko. Warum? Das ist noch offen.
Nicht nur körperlich, auch psychisch hinterliess die Bombe Spuren. Viele der Überlebenden litten – und leiden – an schweren seelischen Belastungen. «Diese Menschen haben nicht nur Angst vor der Vergangenheit. Sie fürchten auch, dass alles wiederkommen könnte», so Andreas Maercker, Professor für Psychopathologie und Klinische Intervention an der Universität Zürich. Er forscht seit Jahrzehnten zu den Folgen kollektiver Traumatisierung.
Flashbacks, Angstzustände, Erinnerungen an Gerüche verbrannter Körper – das alles begleitete die Überlebenden tagtäglich.
Stigmatisierung als Trauma-Treiber
Nicht nur das Erlebte traumatisierte – auch das, was danach kam: Jahrzehntelange gesellschaftliche Ausgrenzung. Überlebende wurden als potenziell gefährlich wahrgenommen. Als wären sie selbst noch verstrahlt.
Heirat, Arbeit, Integration blieb vielen verwehrt. «Diese Diskriminierung ist ein grosser Treiber für psychische Erkrankungen. Und sie verhindert, dass sich die Wunden schliessen», so Maercker.
Und doch: Die Geschichte endet nicht nur in Ohnmacht: Viele Überlebende haben in ihrem Leiden Sinn gefunden, sich als Mahner:innen gegen Atomwaffen engagiert – und wurden dafür als Teil der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
«Trauma und Resilienz können nebeneinander existieren. Es gibt Menschen, die unter Depressionen leiden und trotzdem sagen: Ich habe überlebt, um etwas weiterzugeben.»
Vererbte Erinnerung
Die Neurowissenschaftlerin Isabelle Mansuy erforscht an der ETH und Universität Zürich mithilfe von Mausmodellen, wie traumatische Erfahrungen auf das Erbgut wirken. Werden junge Mäuse traumatischem Stress ausgesetzt, etwa durch Trennung von der Mutter, zeigen sie später auffälliges Verhalten: Sie sind ängstlicher, weniger stressresistent, sozial gehemmt.
Das Überraschende: Diese Veränderungen zeigen sich nicht nur bei den direkt betroffenen Tieren, sondern auch in den nachfolgenden Generationen – selbst wenn diese keinen direkten Stress erlebten. Die Marker liessen sich unter anderem im Sperma der Männchen nachweisen.
Auch Resilienz kann weitergegeben werden
«Die Ergebnisse lassen sich nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen. Aber sie liefern Hinweise darauf, wie stark frühe Traumata biologische Spuren hinterlassen können – und wie diese über Generationen weiterwirken», so Mansuy.
Aber auch Resilienz kann epigenetisch vererbt werden. Es komme darauf an, so die Neurowissenschaftlerin, wie eine Gesellschaft, wie eine Familie mit dem Erlebten umgehe.
Ein vorsichtiger Hoffnungsschimmer also: Nicht nur das Trauma, auch der Umgang damit kann Spuren hinterlassen – vielleicht sogar heilsame.
80 Jahre nach Hiroshima ist klar: Traumata prägen tiefgreifender, als je vermutet. Sie hinterlassen Spuren in der Gesundheit, im Gefüge der Gesellschaft, in Erinnerung und Identität.
Doch die Forschung bietet auch Werkzeuge: Wer die Folgen versteht, kann besser vorbeugen, anders begleiten und heilen. Hiroshima und Nagasaki sind Vergangenheit – und dennoch mahnen sie, Langzeitfolgen von Krisen ernst zu nehmen.