Sauerstoffbehälter und Inhalatoren: In Ana Obradovics Zimmer stehen medizinische Geräte, die man in keinem Teenagerzimmer sehen will.
Die junge Frau lebt Ende 2019 am Rande des Erstickens. Trotz riesigem Therapieaufwand und der Einnahme von mehr als 20 Medikamenten liegt ihre Lungenleistung gerade noch bei einem Fünftel. Tendenz abnehmend. Ana Obradovic hat cystische Fibrose.
Mehrmals täglich muss die 18-Jährige zähen, dickflüssigen Schleim aus ihren Lungen husten. Verbringt Stunden mit Inhalieren und Physiotherapie. Da bleibt kaum Zeit für Freunde oder Schule.
Das Sozialleben ist durch die Krankheit ohnehin eingeschränkt: «Ins Kino kannst Du nicht, weil Du hustest und Lärm machst. In den Zoo kannst Du nicht, weil die Kraft nicht zum Spazieren reicht», erklärt die 18-Jährige tapfer lächelnd. «Es ist alles ein bisschen schwierig.»
Ohne zusätzliche Sauerstoffzufuhr geht längst nichts mehr. Ana Obradovic kommt kaum mehr aus dem Haus und verbringt viel Zeit daheim mit ihrer Familie.
Hier findet sie Trost und Unterstützung. «Ana ist wirklich mutig», sagt Mutter Desa, die sich an schwierige Zeiten mit ihrer Tochter erinnert. «Ich bin stolz, weil sie nicht aufgibt.» Bei der Therapie sei sie immer positiv und fröhlich gewesen. «Auch wenn es schwer war, hat sie immer positiv nach vorne geschaut.»
Positiv sein. Dazu hat Ana Obradovic im Dezember 2019 allen Grund. Denn sie zählt zu den ersten in der Schweiz, die an einem Spezialprogramm mit einem neuen Medikament teilnehmen können.
Möglich ist dies, weil ihre Krankheit schon stark fortgeschritten und ihre Lungenfunktion massiv reduziert ist.
Die Hoffnung in Tablettenform heisst Trikafta. Das Medikament wird vom Hersteller im Rahmen des Spezialprogramms kostenlos zur Verfügung gestellt. In der Schweiz zugelassen ist es da noch nicht. Es hat sich in der CF-Community aber bereits einen Namen gemacht und wird als eigentliches Wundermittel gehandelt.
Das weckt auch bei Ana entsprechende Erwartungen: «Hoffentlich funktioniert meine Lunge bald wieder besser», meint sie. Und freut sich auf lachen ohne husten und auf Spaziergänge mit Familie und Freunden. Ausserdem erhofft sie sich ein paar Kilo mehr auf der Waage. Denn die Krankheit wirkt sich auch auf ihren Stoffwechsel aus: Egal, wie viel Ana isst – sie nimmt einfach nicht zu.
Die kleinen Pillen, die Ana Obradovic im Dezember 2019 im Kinderspital Zürich erhält, haben es also in sich. Auch preislich.
Rund 300'000 Dollar kostet eine Jahresbehandlung zu dem Zeitpunkt in den USA. Das ruft Kritiker auf den Plan. Ein unabhängiges Gutachten aus Amerika bewertet Trikafta im April 2020 als sehr wirksam und benotet es mit einem sehr hohen Rating. Allerdings sei der Preis im Verhältnis zum Nutzen vierfach überteuert: Auf den damals analysierten Preis müssten rund 75 Prozent Rabatt gewährt werden, heisst es im Bericht.
In der Schweiz kostet das Medikament heute offiziell rund 220'000 Franken pro Patient und Jahr. Seit Februar 2021 übernehmen dies die Krankenkassen. Das Medikament muss ein Leben lang eingenommen werden.
Was Trikafta bewirken kann, zeigt das Beispiel von Adrian Mattmann. Auch er leidet an cystischer Fibrose. Auch seine Lunge war schon derart eingeschränkt, dass er für dasselbe Spezialprogramm wie Ana Obradovic berücksichtigt wurde.
Als das Gesundheitsmagazin «Puls» ihn im November 2019 trifft, schluckt er den Hoffnungsträger erst seit zwei Wochen – mit bemerkenswerten Resultaten: «Ich hatte wirklich viel Schleim und grosse, grüne Brocken, die da rauskamen. Das ist jetzt weg!»
Weniger Schleim, mehr Energie. Die erste Lungenfunktionskontrolle seit dem Start der neuen Therapie bestätigt Adrian Mattmanns subjektives Empfinden eindrücklich: Die Kapazität des Atemorgans hat sich innerhalb kurzer Zeit von 34 auf 44 Prozent verbessert!
Die eindrücklichen Erfolge des neuen Medikaments werden von der Schweizerischen Gesellschaft für Cystische Fibrose CFCH aufmerksam verfolgt. Erstmals besteht für einen Grossteil der rund 1000 CF-Patientinnen und -Patienten eine reelle Chance auf eine erfolgreiche Behandlung. Die Patientenorganisation setzt sich vehement für eine möglichst schnelle Zulassung in der Schweiz ein. Die Stimmung ist euphorisch.
«Für mich als Betroffener kommt das einer Heilung gleich», meint Präsident Reto Weibel. «Auch wenn die Ärzte sagen werden, dass man das nicht so nennen darf. Letztlich ist die Wirkung aber phänomenal!»
Euphorie herrscht auch anderswo. In Patienten-Netzwerken, den sozialen Medien und auf Youtube teilen CF-Betroffene weltweit ihre Begeisterung über das neu gewonnene Leben und das Ausbleiben von Nebenwirkungen.
Doch es gibt auch eine Schattenseite. Denn Trikafta wirkt nicht immer.
Rund ein Fünftel der 1000 Betroffenen in der Schweiz kommen für die neue Therapie nicht in Frage. Das droht die CF-Gemeinschaft zu spalten: In solche, die sich fast schon geheilt fühlen und solche, bei denen sich die Hoffnungen zerschlagen haben.
CFCH-Vorstandsmitglied Yvonne Rossel und ihre Freundin Edith Krähenbühl stehen exemplarisch für dieses Dilemma. Yvonne Rossel hatte zwar zu Beginn mit Trikafta heftige Nebenwirkungen, doch ihrer Lunge geht es unterdessen viel besser. Edith Krähenbühl hingegen zählt zu einer Gruppe von Betroffenen, bei denen das Medikament aufgrund von bestimmten Gen-Mutationen nicht wirken kann. «Ich wusste schon, dass meine Hoffnung an einem kleinen Ort ist, aber trotzdem wollte ich sie nicht ganz aufgeben. Einfach, weil es noch nie eine derartige Hoffnung gegeben hat.»
Auch wenn sie nichts dafürkann: Dass die Therapie bei Ihr anschlägt und bei ihrer Freundin nicht, sorgt bei Yvonne Rossel schon fast für ein schlechtes Gewissen. Eine ganz natürliche Reaktion, wie die klinische Ethikerin Tanja Krones vom Universitätsspital Zürich meint: «Wir neigen dazu, die anderen Patienten dann eben nicht auszuhalten. Das sind, glaube ich, ganz tiefe psychologische Mechanismen, weil wir uns das Gute bewahren wollen.»
Nach der ersten Euphorie macht sich also nun auch bei Trikafta Ernüchterung breit. Die riesigen Erwartungen zeigen Nebenwirkungen. «Das ist für uns wirklich bedrückend», räumt CFCH-Präsident Reto Weibel ein. «Was das auslöst, ist uns schon nicht ganz bewusst gewesen.»
Die Patientenorganisation will sich nun mit einem speziellen Programm und psychologischer Hilfe um diejenigen kümmern, die von Trikafta nicht profitieren können.
Zurück zu Ana Obradovic:
Ende 2019. Wenige Tage nach der ersten Einnahme von Trikafta hat sich noch kaum etwas getan. Husten wie immer. Schleim wie immer. Doch der Erwartungsdruck in ihrem Umfeld steigt – so stark, dass sie schliesslich ihr Handy ausschaltet, um den ständigen Nachfragen zu entgehen.
Zwei Wochen später dann die erste Kontrolluntersuchung. Ana ist zuversichtlich. Hofft, dass sich die gefühlten Verbesserungen im Lungenfunktionstest bestätigen. Denn jedes Prozent Verbesserung bringt sie ein Stück weit aus der Gefahrenzone.
Doch statt über 20 Prozent gestiegen zu sein, stagniert der Lungenwert knapp darunter. Ana ruft zu Hause an, überbringt der Mutter die schlechte Nachricht und gibt sich danach ungebrochen tapfer. «Sie war natürlich enttäuscht. Ich nicht so sehr. Mir ist wichtig, dass ich stabil bin und es mir nicht schlechter geht.»
Beim Arztgespräch kann sie sogar Fortschritte vermelden: Drei Stockwerke ist sie kürzlich am Stück hochgelaufen. Zum ersten Mal ohne Pause.
Pneumologe Alexander Möller ist beeindruckt und macht seiner Patientin Mut: Gerade bei fortgeschrittener Krankheit könne es auch länger dauern bis die Resultate sichtbar würden. Nur Geduld.
Frühling 2020: Das Coronavirus hat die Schweiz im Griff. Mitten im ersten Shutdown geht es zum nächsten Untersuch ins Kinderspital Zürich.
Wieder wird die Lungenfunktion getestet. Wieder keine Verbesserung. Ernüchterung bei Ana: «Es war 19 Prozent. Weniger als im Februar. Es war eine grosse Enttäuschung und ich habe ein bisschen geweint.»
Immerhin: Abgesehen von der Lungenfunktion spürt sie doch einige andere Verbesserungen. Sie hustet weniger, bringt den Schleim besser hoch, hat mehr Energie. Kann sich mehr bewegen als auch schon. «Es ist schon eine Verbesserung, aber nicht so gross, wie ich erwartet habe.»
«Puls» trifft Ana Obradovic im Oktober 2020 wieder. Seit dem Frühling ist einiges passiert: Ana muss einen Haufen neuer Medikamente schlucken. Doch Trikafta ist nicht mehr dabei.
Im Sommer hatte sich ihr Zustand dramatisch verschlechtert: schwere Atemnot, Infektionen. Sie wurde auf der Intensivstation künstlich am Leben gehalten.
Ihre Lungen wollten nicht mehr. Die letzte Chance war eine Lungentransplantation. Ein Eingriff mit sehr hohem Risiko, weil das eigene Atemorgan mit multiresistenten Bakterien befallen war. Die Überlebenschancen: gering.
Ana Obradovic hat auch dies überstanden. Seit der erfolgreichen Transplantation benötigt sie aber eine dauerhafte Antibiotikatherapie. Starke Medikamente rund um die Uhr, damit sich die resistenten Bakterien nicht ausbreiten und eine lebensgefährliche Infektion auslösen.
Auf ihr Immunsystem kann sich Ana dabei nicht verlassen. Denn damit die neue Lunge nicht abgestossen wird, kommen auch Immunsuppressiva zum Einsatz. Die lahmgelegte Abwehr kann so selbst auf vergleichsweise banale Keime aus der Umwelt nicht mehr angemessen reagieren – schon eine kleine Erkältung könnte Anas letzte gewesen sein. Ein Leben auf Messers Schneide.
Und doch: Trotz ihrer ausweglosen Situation fokussiert die junge Frau weiterhin auf die positiven Aspekte ihres Daseins, freut sich, dass sie dank der neuen Lunge wieder viel besser atmen kann. «Spazieren konnte ich früher nicht... Bei schönem Wetter gehe ich jetzt immer eine Stunde laufen. Freiheit!»
Dass der Versuch mit Trikafta nicht den erhofften Erfolg gebracht hat, nimmt sie mit bewundernswerter Gelassenheit hin: «Es war schön, die Möglichkeit zu haben, und ein bisschen traurig, dass es nichts gebracht hat. Aber vielleicht hilft es ja jemand anderem.»