Der Unterschied ist klein – zwischen den Generationen. Manches ist hinzugekommen. Vieles aber ist gleichgeblieben: der Zeitpunkt, die Fragen, die Freude, der Frust und die Lust. Es war gut, das erste Mal, sagen die meisten jungen Menschen im Rückblick. Und es wird besser. Mit der Zeit.
Jede Generation hat Angst, dass die nächste Generation früher Sex hat.
Die Jugendlichen in der Schweiz bedienen das Klischee vom «Sittenzerfall» nicht. Ein Topos, der eine jahrtausendealte Tradition hat. «Jede Generation hat Angst, dass die nächste Generation früher Sex hat», sagt Christina Akré. Sie forscht am Public Health Institut Unisanté der Universität Lausanne. Die Jugendlichen von heute seien weder frühreif noch oversexed noch digital irregeleitet.
Das «erste Mal» kommt nicht früher
Im Schnitt tun es die Jugendlichen heute nicht früher als früher. Mit der sexuellen Revolution und der Einführung der Pille in den 1960er-Jahren ist das Durchschnittsalter der sexuell aktiven Jugendlichen zwar moderat gesunken. Doch seit 30 Jahren kommt der Sex zuverlässig zur selben Zeit: Die Jugendlichen in der Schweiz sind beim ersten Mal knapp 17 Jahre alt.
Das Sexualverhalten der Jungen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten also weit weniger verändert, als die Älteren vermuten. Trotz Internet, trotz unterschiedlichster Spielarten der Digitalisierung.
Die junge Forschungsgeneration stellt andere Fragen
Verändert aber hat sich in den vergangenen Jahren die Forschung. Heute fragen Forscherinnen wie Christina Akré und ihre Kollegin Yara Barrense-Dias von Unisanté anders, und die Jungen antworten offener.
In früheren Befragungen sei manches im Dunkeln geblieben, weil man schlicht nicht danach gefragt habe. Etwa zu Themen wie Masturbation, Sextoys, Pornokonsum, Oral- und Analsex oder gleichgeschlechtlichem Sex.
Christina Akré und Yara Barrense-Dias gehören zu einer neuen Generation von Public-Health-Wissenschaftlerinnen. Zu einer Generation, die an vermeintlichen Gewissheiten rüttelt, gängige Definitionen fallen lässt und sich selbst und die Jungen auch ganz Grundsätzliches fragt. Zum Beispiel: Was ist das eigentlich, das erste Mal? Das sei früher keine Frage gewesen.
«Auch wir haben die Frage nach dem ersten Mal gestellt», sagt Yara Barrense-Dias, «aber mit einer sehr breiten Definition, die verschiedene Praktiken einschliesst: vom ersten sexuellen Kontakt, einschliesslich Streicheln, Masturbation bis hin zur analen Penetration. Wir wollten nicht übergehen, was die Jugendlichen ganz individuell als ihr ‹erstes Mal› definieren.»
Was ist denn eigentlich das «erste Mal»?
Lange Zeit galt vaginaler Verkehr mit heterosexueller Penetration als Norm. Und die Jugendlichen haben im Sinn dieser vermeintlichen Norm geantwortet und über den Rest geschwiegen. Meist jedenfalls.
Heute versuchten sie in der Forschung viel offener zu sein, sagt Yara Barrense-Dias. Differenziertere Fragen führen zu differenzierteren Antworten und damit zu besseren Daten für die Wissenschaft. Fragte man früher: «Bist du homosexuell?», heisst es jetzt «Hattest du schon einmal mit einer Person gleichen Geschlechts sexuellen Kontakt?» Denn nicht jede Person, die gleichgeschlechtlichen Sex hat, bezeichnet sich als homosexuell oder will sich einer immer noch stigmatisierten Gruppe zuordnen.
Wie die Frage, so die Antwort
Sie versuchten, in ihrer Forschung niemanden auszuschliessen – etwa durch zu eng gefasste Formulierungen, so Barrense-Dias: «Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn wir eine Frage dazu stellen, ob die Jugendlichen bereits einmal schwanger waren, dann fragen wir in der weiblichen und der männlichen Form, also: ‹Avez vous été enceinte ou enceint?›.»
Das ist wichtig. Denn die, die ausgeschlossen wurden und werden, sind die verletzlichsten: Jugendliche mit einer diversen sexuellen Orientierung oder einer diversen sexuellen Identität. Sie gehören zu einer Minorität und haben ein höheres Risiko, Gewalt, Diskriminierung und Stigmatisierung zu erleben – auch im Gesundheitssystem.
Christina Akré spricht von einer verhängnisvollen Dynamik: «Diese Jugendlichen ziehen sich zurück, suchen seltener medizinische Hilfe. Sie äussern nicht, was sie tun oder was sie sich wünschen – aus Angst vor weiterer Diskriminierung. Daher ist es wichtig, sie in der Forschung, zum Beispiel durch die Art der Fragen, miteinzubeziehen. Wenn sie sich in der Sprache, in der Art, wie wir fragen, wiederfinden, fühlen sie sich eher frei, Auskunft über ihre Sexualität zu geben.»
Die digitale Form des sexuellen Vorspiels
Richtig angesprochen, sprechen die Jugendlichen über das, was schon immer war, über das, was nicht gesagt werden durfte oder darf, und auch über das, was neu hinzugekommen ist – zum Beispiel Sexting. Yara Barrense-Dias: «Wir haben gesehen, dass fast 50 Prozent der jungen Erwachsenen unserer Stichprobe schon einmal ein sexy Foto oder ein sexy Video von sich verschickt haben.»
Die Zahlen stammen von 2017. Seither haben sie sich wohl erhöht. Denn Sexting gehört heute für viele junge Menschen zum Vorspiel.
An Pornografie führt kein Weg vorbei
Spätestens anfangs Oberstufe besitzen Jugendliche ein Smartphone und halten damit eine Welt in der Hand, die sie fördern und erfreuen kann, aber auch überfordern und verstören. Wer nach Informationen über Sex sucht, findet oft Pornografie.
Jedes dritte Mädchen und drei von vier Jungs haben sich schon pornografisches Material auf ihrem Smartphone angeschaut. Jeder fünfte 13-jährige Junge konsumiert regelmässig Pornos. Bei den 18-Jährigen ist es die grosse Mehrheit. Die meisten Jugendlichen bleiben damit allein und können das Gesehene nicht mit einer erwachsenen Person besprechen und einordnen.
Erklären statt moralisieren
Hier brauchts Hilfe, hier brauchts Aufklärung. Das ist für Yara Barrense-Dias und Christina Akré keine Frage: «Pornografie ist eine Fiktion. Das ist nicht die Realität. Das muss man den Jugendlichen erklären. Sex läuft nicht so ab. Er dauert nicht stundenlang. Die Körper sind anders. Die Performance ist nicht dieselbe.»
Sexualpädagogik soll Pornografie aber nicht als etwas Verbotenes und Verwerfliches thematisieren. Sie gehört zu den reizvollen Grenzüberschreitungen des Erwachsenwerdens. Pornografie sei nicht per se schädlich. Die Dosis mache es aus. Und manchmal auch die Zeit, bis die Eindrücke rausgeschwitzt sind.
Mal für Mal ein Stück näher zur authentischen Sexualität
Ein Beispiel aus einer deutschen Studie: Junge Frauen stöhnen oft laut beim Sex. Nicht weil sie so fühlen, sondern weil sie denken, das mache man so. Eben so wie sies in pornografischen Videos gesehen und gehört haben. Aber das geht – mit zunehmender sexueller Erfahrung – auch wieder weg, wird weniger, leiser, authentischer.
Im Netz finden sich aber auch Informationen zu all den aufregenden Gefühlen rund um jungen Sex und Verliebtheit, die in der schulischen Sexualbildung oft fehlen. Zum Beispiel auf der Seite Tschau.ch .
Die Schule ist in der Schweiz neben dem Internet noch immer die Hauptaufklärungsinstanz. Hier dominiert aber oft eine biologisch-technische Sexualpädagogik, die vor allem auf den Körper und auf die Gefahren im Zusammenhang mit Sexualität fokussiert ist. Auf ansteckende Krankheiten oder unerwünschte Schwangerschaften statt auf Lust, Wünsche und Erfüllung.
Kam das erste Mal zur richtigen Zeit?
Apropos Erfüllung: Wie war es denn nun eigentlich, das erste Mal? Auf diese Frage ist die Forschung spät gekommen. Zeitpunkt und Technik schienen wichtiger – wer, wann, was mit wem. Mittlerweile fragen einige Forscherinnen auch nach Gefühlen – den echten Gefühlen. Christina Akré und Yara Barrense-Dias von der Unisanté Lausanne tuns indirekt: «Kam das erste Mal zu richtigen Zeit?»
Zwei Drittel der 7000 jungen Menschen gaben in der letzten grossen nationalen Umfrage an, es sei der richtige Zeitpunkt gewesen. Für die andern – meist weiblichen – Befragten kam das erste Mal rückblickend zur falschen Zeit. Sie sagten, dass es zu früh war und dass sie es nicht hätten tun sollen. Es fehlte ihnen an Schutz, an Verhütungsmassnahmen, an Kondomen. Vielleicht war da auch Panik oder Angst, so dass sie diese Erfahrung im Nachhinein bereuten. Während die Männer meist sagten, das erste Mal sei für sie zu spät gewesen. Sie hätten es gerne schon früher gemacht.
Der falsche Moment und die Folgen
Oft ist es Druck, der zum falschen Zeitpunkt führt. Druck durch die Gruppe oder den, in diesem Fall, meist zufälligen Partner. Faktoren, die das Risikoverhalten steigern. Unerwünschte sexuelle Kontakte und sexuelle Gewalt gegenüber Frauen sind immer noch ein häufiges Problem.
53 Prozent der jungen Frauen berichteten über Druck und Gewalt im Zusammenhang mit Sexualität. Bei den jungen Männern sind es 23 Prozent. Wie lange solche Erlebnisse nachwirken, ist in der Schweiz weitgehend unerforscht. Es fehlen Langzeitstudien .
Der erste Sex: meist weder gut noch schlecht
Wenn der Zeitpunkt gut ist, gilt das nicht unbedingt auch für den Sex. Für die meisten Jugendlichen ist das erste Mal weder angenehm noch unangenehm. Wichtig ist für viele, dass sie diese Schwelle überschritten haben. Auch wenn die Statuspassage ins Erwachsenenleben qualitativ meist tiefer liegt, als es die Mystifizierung des ersten Mals suggeriert.
Es gibt sie durchaus, die Jugendlichen, die nicht nur Verlangen spüren, sondern darüber hinaus auch sexuelles Vergnügen und Befriedigung erleben – bereits bei den ersten geteilten erotischen Erfahrungen. Das Vergnügen kommt, wenn vieles passt: Selbstbestimmung, Einverständnis, Sicherheit und Schutz, Privatsphäre, Vertrauen und die Fähigkeit, über Sexualität zu sprechen und die Beziehung auszuhandeln.
Sexuelles Vergnügen ist lernbar
Das ist viel auf einmal. Das muss man nicht auf Anhieb können. Das muss man lernen dürfen: erotische Skills aufbauen, mit der Partnerperson sprechen, nach Zustimmung fragen, im Internet nach vertrauenswürdigen Infos suchen.
Der erste Sex ist also wohl eher ein Prozess als einmaliges Ereignis. Nicht das eine erste Mal, sondern die ersten Male. Und Erotik ist lernbar. Der Weg zur eigenen und geteilten Sexualität ist eine Expedition in Etappen. Das sagt die Forschung. Und auch die Erfahrung.