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Leid durch Übergewicht «Fettsack!»: Wie Mobbing Kinderseelen bricht

Übergewichtige Kinder werden gehänselt und gedemütigt, weil ihr Körper nicht der Norm entspricht. Seelische Wunden bleiben oft ein Leben lang. Zwei Betroffene erzählen, wie sie gemobbt wurden. Beide haben Hilfe am Luzerner Adipositaszentrum gefunden und sich aus dem Teufelskreis gelöst.

«Fette Kuh!», «Bowlingkugel!» oder «Big Mac!» Diese Demütigungen und Beleidigungen musste sich die 12-jährige Khira ständig in der Schule anhören. Auch Tobias wurde in seiner Kindheit stark gemobbt. Obwohl er jetzt dünn ist, landete der 23-Jährige erneut in der Psychiatrie. Die tiefen Wunden der Vergangenheit sind wieder aufgerissen.

Adipositas und Mobbing: Datenlage Schweiz

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In der Schweiz sind laut aktuellen Daten rund 15 Prozent der Kinder übergewichtig, vier Prozent gelten als adipös. Ein Teil dieser Kinder erhält medizinische Hilfe. Die Hälfte der adipösen Kinder des Luzerner Adipositaszentrums haben letztes Jahr angegeben, dass sie gemobbt werden.

Erst mit Wegzug endete Mobbing

Die übergewichtige Khira erhielt in ihrer alten Schule fiese Spitznamen, die sie verunsichert und verletzt haben. Ihre ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler beliessen es nicht bei Worten. Sie lockten sie unter einem Vorwand auf einen Spielplatz, schubsten sie, drohten ihr Prügel an.

Khira rannte nach Hause, brach in Tränen aus und hatte Angst. «Ich wollte nicht mehr zur Schule.» Erst mit einem Umzug und Schulwechsel hat sich ihre Lage verbessert.

Eine Kindheit geprägt von Erniedrigungen, Angst und dem ständigen Gefühl, falsch zu sein. Adipöse Kinder und Jugendliche haben es schwieriger als man denkt. In ihrem Alltag, aber auch in ihrem zukünftigen Leben. Dabei ist ihr Leiden auch ein Produkt ihrer sozialen Umgebung.

Mobbing entsteht selten abrupt. Es bildet sich entlang sichtbarer Unterschiede: Körpergrösse, Kleidung, Verhalten, Herkunft. Bei adipösen Kindern reicht häufig allein die Körperform. Kinder und Jugendliche mit Übergewicht gehören zu denen, die am stärksten von Mobbing und Stigmatisierung betroffen sind.

Mobbingspuren sind tief 

Andrea Ramseier, Beraterin im psychosozialen Bereich, betreut Khira seit Jahren. Sie rät Eltern: «Wirklich da zu sein, zuzuhören und das ernst zu nehmen. Sicher auch auf die Lehrpersonen zugehen. Es hat einen anderen Impact, wenn die Eltern das Gespräch suchen, unterstützen und handeln.»

Viele Erwachsene berichten noch Jahrzehnte später von Mobbingerfahrungen, erklärt Ramseier, besonders, wenn sie in der Kindheit mit ihrem Gewicht konfrontiert wurden. «Die Spuren sind tief.»

Für die Betroffenen ist das besonders fatal, weil Adipositas keine Willensschwäche ist. Adipositas ist eine komplexe, chronische Erkrankung.

Was ist Adipositas (bei Kindern)?

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Adipositas (von lat. adeps für «Fett») ist eine Ernährungs- und Stoffwechselerkrankung mit starkem Übergewicht.

Gemäss WHO ist Adipositas eine chronische und komplexe Erkrankung, die durch eine übermässige oder über das Normalmass hinausgehende Vermehrung des Körperfetts gekennzeichnet ist, welches die Gesundheit schädigen kann.

Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen werden mithilfe des sogenannten Body-Mass-Index (BMI) bestimmt.

Der BMI setzt das Körpergewicht ins Verhältnis zur Körpergrösse. Da sich Kinder noch im Wachstum befinden, wird ihr BMI mit dem von gleichaltrigen Kindern gleichen Geschlechts verglichen.

Liegt der BMI eines Kindes höher als bei 90 Prozent der Gleichaltrigen, gilt es als übergewichtig. Ist der BMI höher als bei 97 Prozent der Kinder desselben Alters und Geschlechts, spricht man von Adipositas. Bei einem BMI, der höher ist als bei 99,5 Prozent der Vergleichsgruppe, handelt es sich um eine extreme Form der Adipositas.

Eine Ursache kann die genetische Veranlagung sein. Wenn ein Elternteil adipös ist, hat das Kind ein 50-prozentiges Risiko, auch daran zu erkranken. Sind beide Elternteile adipös, besteht ein 75-prozentiges Risiko.

Dick sein heisst: nicht gut genug sein

«Es ist ein falsches Bild, das in der Gesellschaft verankert ist. Viele glauben, die Kinder seien selbst schuld, weil sie zu viel essen oder sich zu wenig bewegen. Das stimmt so nicht», sagt Tanja Karen, Leiterin des Adipositaszentrums Luzern. Diese gesellschaftliche Fehldeutung bildet oft den Nährboden für Stigmatisierung. «Das kann in der Folge dazu führen, dass Betroffene zum Trost mehr essen, und sich die Adipositas so noch verstärkt.» Ein Teufelskreis.

Die Kinder geben sich einerseits selbst die Schuld, zudem werden sie von anderen Kindern in der Schule noch geplagt. Das ist eine doppelte Belastung für die eigene Psyche. Dabei ist Adipositas offiziell eine chronische Krankheit, die sehr komplex ist.

Halb so schwer nach OP

Tobias hat in seiner Kindheit bis zu 155 Kilogramm auf die Waage gebracht. Er versuchte, sein Gewicht zu reduzieren, nichts hat gefruchtet. Selbst mit Bewegung und sportlicher Aktivität – beim Schwingen – wurde er nicht leichter.

Erst eine Magenschlauch-OP mit 15 Jahren hat ihm ein neues Leben gegeben. Er wurde schnell dünner und wiegt heute nur noch 76 Kilogramm. Das Mobbing endete zeitgleich mit seinem Übergewicht.

Konstante Gemeinheiten zermürbten Tobias

Tobias erlebte eine Kindheit voller Schmähungen seit der ersten Klasse ... «Kannst Du nicht mehr?», «Fettsack!», oder: «Du bist zu langsam!» Diese Gemeinheiten scheinen gar nicht so schlimm, sie trafen ihn aber immer und verletzten ihn tief. Und: Sie lösten etwas bei Tobias aus.  Er wehrte sich körperlich.

«Als sie nach dreimal nicht aufhörten, packte ich sie einfach. Dann war ein paar Tage Ruhe. Und dann machten sie weiter,» sagt Tobias. Ein folgenschwerer Kreislauf für alle Beteiligten. Tobias wurde mit 15 sogar in die Psychiatrie eingewiesen.

Im Adipositaszentrum in Luzern ist auch Tobias Patient. «Kinder reagieren häufig sehr sensibel auf das Thema Gewicht. Das sind Äusserungen wie: ‹Du musst dich mal mehr bewegen!› oder ‹Achte mal mehr aufs Essen!›», sagt Tanja Karen. Es sei vielleicht gut gemeint, aber das verletze die Familien und die Patienten enorm. Weil sie sich jetzt schuldig fühlen, dass sie etwas falsch machen.

Es sei ein falsches Bild, das in der Gesellschaft verankert ist. Die Gesellschaft habe den Eindruck, die Leute seien doch selber schuld, dass sie so dick sind. «Sie würden zu viel und falsch essen und sich nicht bewegen oder nur am Handy sein. Das wird immer gesagt, ist aber nicht so.»

Wenn andere ihn hänselten, wehrte sich Tobias körperlich. Für die Lehrer war es eindeutig: Tobias war das Problem. «Es ist ja menschlich, auch wenn es nicht die optimale Reaktion ist, dass sie sich dann wehren, auch beleidigend werden oder manchmal auch tätlich werden», erklärt Tanja Karen.

ADHS als Brandbeschleuniger

Zudem kommt, dass Adipositas oft mit ADHS einhergeht. Das führt zu Konflikten im Umfeld des übergewichtigen Kindes und zu schwierigen Situationen. «Bei diesen Patienten ist die Impulskontrolle auch ein wenig reduziert. Das kann das zusätzlich etwas verstärken. Darum reagieren sie im Verlauf gegebenenfalls so heftig darauf.»

Dass es Tobias heute gut geht, ist besonders seiner Mutter zu verdanken. Sie hat sich immer um ihn gekümmert. Sie hat ihn in seiner schwierigen Kindheit immer verstanden und unterstützt.

«Es war nicht immer ganz einfach, für uns alle nicht», sagt Gisela Meier-Flükiger. «Ich glaube, auch für die anderen nicht. Er brauchte einfach immer mehr Aufmerksamkeit als alle anderen.» Sie suchte immer mehr das Gespräch mit den Lehrern, aber das war nicht immer einfach.

Ich sage einfach immer: ‹Glaube deinem Kind›
Autor: Gisela Meier-Flückiger Mutter von Tobias

Denn wenn etwas vorgefallen war, hatte immer Tobias schuld. Weil er sich nur körperlich und nicht verbal wehren konnte. «Er hat halt einfach zugeschlagen oder die anderen auf den Rücken gelegt.»

Viele Eltern sind mit der Situation überfordert. Tobias' Mutter suchte jahrelang Unterstützung, ohne Erfolg. Lehrpersonen waren häufig überlastet oder interpretierten die Lage falsch. In der Umgebung der Schule braucht es Lehrpersonen, die das Gespräch suchen. Doch in der Realität fehlt es oft an Ressourcen. Mutter Gisela zieht ihren Schluss: «Ich sage einfach immer: ‹Glaube deinem Kind›.»

Wo finde ich Hilfe bei Mobbing?

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Lieber früher als später aktiv werden. Mobbing ist oft komplex. Deswegen ist es manchmal schwierig, die nötige Hilfe im Umfeld des Kindes zu erhalten. Wenn Sie nicht weiterkommen, erhalten Sie hier Hilfe:

Ein Wendepunkt: Khira findet neuen Halt

Khira geht es seit diesem Sommer besser. Das Mobbing ist vorbei. Sie hat die Schule gewechselt und erlebt zum ersten Mal seit Jahren Zugehörigkeit. Ihre Klasse akzeptiert sie, wie sie ist. Ihre beste Freundin sagt ihr täglich, dass sie schön sei.

Der Kern ihres Fortschritts liegt nicht im Gewichtsverlust, sondern im Wert, den andere ihr geben. «Momentan höre ich nichts Negatives mehr. Nur Positives. Weil sie mich in der Schule und allgemein in der Klasse so akzeptieren, wie ich bin.»

Puls, 8.12.2025, 21:05 Uhr;weds

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