Mathe-Gender-Gap - Wie schnell Mädchen beim Rechnen ins Hintertreffen geraten
Eine Studie mit über zwei Millionen Schulkindern aus Frankreich zeigt: Mädchen starten gleich stark in Mathematik, fallen aber schon nach wenigen Monaten zurück. Woran liegt das?
Kleine Challenge am Anfang: Emma und Leo kommen gleichzeitig in die erste Klasse. Zu Beginn lösen beide 8 von 10 Matheaufgaben richtig. Nach vier Monaten liegt Leo im Schnitt zwei Aufgaben vor Emma. Ein Jahr später – zu Beginn der zweiten Klasse – hat sich dieser Unterschied vervierfacht.
Wie viele Aufgaben mehr löst Leo im Vergleich zu Emma? *
Was könnte in dieser Zeit passiert sein, dass sich der Unterschied so stark vergrössert hat?
Eine Aufgabe fast wie aus dem Schulbuch. Nur stammen die Zahlen nicht aus einer Textaufgabe, sondern aus einer grossangelegten französischen Studie mit über 2,6 Millionen Primarschulkindern. Die Lösung? Führt in Bildungssysteme, die früh beginnen Kinder unterschiedlich zu behandeln – obwohl sie gleich starten.
Die Studie, die jetzt im Fachjournal «Nature» publiziert wurde, zeigt: Zu Schulbeginn besteht in Mathe kaum ein Unterschied in den Leistungen der untersuchten 5- bis 7-jährigen Mädchen und Jungs. Schon nach vier Monaten schneiden Jungs in denselben Tests besser ab (2 bis 3 Prozent). In der zweiten Klasse klaffen die Leistungen deutlich auseinander. Warum das?
Legende:
Zu Schulbeginn sind Mädchen und Jungen in Sachen Mathematik noch auf Augenhöhe.
imago images / Westend61
Stereotype und Leistungsdruck
«Wir haben keine Hinweise gefunden, dass familiäre oder soziale Hintergründe dahinterstecken», sagt Pauline Martinot, Hauptautorin der Studie. Das Team um die Neurowissenschaftlerin vermutet die Ursachen im Schulsystem: Stereotype Erwartungen von Lehrpersonen und Eltern, eine Lernkultur, in der Tempo und Leistung im Vordergrund stehen – und Mathe-Angst, die laut Untersuchungen tatsächlich häufiger bei Mädchen auftritt. «Gerade in den ersten Monaten, wenn alles neu und stressig ist, können diese Faktoren wie unter einem Brennglas wirken», so die Forscherin.
Wirkt dieses Brennglas auch in der Schweiz? Nicht so stark. Doch auch hierzulande gibt es Hinweise darauf, dass Mädchen im MINT-Bereich (Mathe, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) früh den Anschluss verlieren – trotz vergleichbarer Begabung.
Gibt's den Mathe-Gender-Gap auch in der Schweiz?
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Laut PISA 2022 erzielen Schweizer Jungen 11 Punkte mehr als Mädchen in Mathematik – ein Unterschied, der sich bereits in der Primarstufe andeutet: Mädchen zeigen zwar gleiche Leistungen, aber niedrigere Selbsteinschätzung – ein Effekt, der sie später von MINT-Fächern fernhält.
Untersuchungen der PH Zürich und der Uni Bern zeigen: Schon in der Mittelstufe entwickeln viele Mädchen eine Art Mathe-Abwehr, getrieben von Stereotypen, Lehrpersonen-Bias und fehlenden Vorbildern.
In einer Schweizer Umfrage bei Kindern in der dritten Klasse wurde gefragt, wer wohl besser in Mathe sei – selbst Kinder, die Mädchen angaben, meinten: «Jungs.» Der Reflex sitzt tief.
Susanne Metzger, Naturwissenschaftsdidaktikerin an der Pädagogischen Hochschule der Nordwestschweiz und an der Uni Basel bestätigt: «Mädchen sind nicht per se weniger begabt für Mathe oder haben weniger Interesse daran.»
Warum zeigt dann auch eine aktuelle Schweizer Studie auf, dass Mädchen mit Mathebegabung häufig das sprachliche Gymnasium wählen oder sich gegen MINT-Berufe entscheiden? «Weil sie sich daran orientieren, was andere Mädchen in ihrem Umfeld tun.»
Mathelücke ist kein Naturgesetz
Die gute Nachricht sei, so Susanne Metzger, dass man dem entgegenwirken könne. Nur: «Es dauert lange und braucht viele Interventionen.»
Die französische und die Schweizer Studie zeigen: Die Geschlechterlücke in Mathe ist kein biologisches Schicksal – sie ist gemacht. Und sie entsteht nicht schleichend über Jahre, sondern schnell und wiederholt.
Warum Mädchen ins Hintertreffen geraten
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Was steckt hinter dieser frühen Leistungsdifferenz? Die Studie nennt keine eindeutige Ursache – aber sie macht deutlich, wo man nicht mehr suchen muss: Weder die soziale Herkunft, noch der Schultyp oder das Testformat erklären die Unterschiede.
Die Ursachen sind subtiler – aber gut dokumentiert in verschiedenen Untersuchungen.
1. Stereotype Erwartungen – ein leiser, aber starker Einfluss
Bereits im Kindergartenalter werden Kinder mit geschlechtsbezogenen Erwartungen konfrontiert:
Mädchen gelten als «sprachlich begabter», Jungen als «besser in Mathe».
Studien zeigen, dass Lehrpersonen bereits in der 1. Klasse Jungen eher mathematisches Talent zutrauen –bei identischer Leistung.
Auch Eltern (oft unbewusst) fördern Jungen gezielter im technischen Denken: beim Lego-Spielen, beim Rechnen im Alltag, bei digitalen Geräten.
In einer Schweizer Video-Studie (UZH) stuften Lehrpersonen mathematische Fähigkeiten von Jungen systematisch höher ein als die von Mädchen – selbst bei gleichem Ergebnis.
2. Mathematikangst – häufiger bei Mädchen
Untersuchungen zeigen: Mathematikangst tritt bei Mädchen signifikant häufiger auf, oft schon in der Primarstufe.
Diese Angst lähmt nicht nur in Testsituationen, sondern führt langfristig zu Vermeidung und Rückzug – ein Teufelskreis.
Besonders problematisch ist: Angst infiziert sich sozial – durch Freundeskreis, Schulklima oder das Verhalten der Lehrperson.
Die französische Studie legt nahe: Gerade zu Beginn der Schulzeit – wenn vieles ungewohnt ist – könnten ängstliche Reaktionen stärker zum Tragen kommen.
3. Schulstruktur & Unterrichtskultur
Der Matheunterricht ist in vielen Ländern leistungszentriert organisiert:
Schnelligkeit wird belohnt, Fehler werden negativ sanktioniert.
Schülerinnen berichten häufiger, dass sie Mathematik «nicht verstehen dürfen», wenn sie gut ankommen wollen.
Mädchen schneiden oft besser ab, wenn der Fokus auf Problemlösen und Erklärung statt auf Tempo liegt.
In Frankreich war der Gender Gap während der Corona-Lockdowns kleiner – ein Indiz dafür, dass der reguläre Schulbetrieb selbst zur Lücke beiträgt.
4. Fehlende Vorbilder
In Lehrmitteln, Unterrichtsbeispielen und Berufsorientierung fehlen oft weibliche MINT-Rollenbilder:
Mathematikerinnen, Informatikerinnen oder Ingenieurinnen sind unterrepräsentiert – oder nur symbolisch präsent.
Viele Mädchen können sich mit dem Berufsfeld schlicht nicht identifizieren – ein klassisches Repräsentationsproblem.
Im Projekt «Wer ist dein Vorbild?» lassen Forschende der Uni Basel und PH FHNW Kindergartenkinder Bilder von Menschen mit technischen Berufen zeichnen. Zwar liegen noch keine Ergebnisse vor, aber erste Einblicke zeigen: Die Vorstellungen sind oft klischeehaft – etwa alte Männer mit wirrem Haar.
Ziel des Projekts ist es, altersgerechte Materialien zu entwickeln, die MINT-Berufe vielfältiger und weibliche Vorbilder sichtbarer machen.
Die Forschenden fordern daher, dass pädagogische Massnahmen viel früher ansetzen müssen – schon im Kindergarten, bevor sich erste Stereotype und Ängste verfestigen.
Auch Metzger stimmt zu: «Wichtig ist, dass Kinder – vor allem Mädchen – früh positive Erfahrungen mit MINT machen: Erfolgserlebnisse, Neugier weckende Aha-Momente und Vorbilder, die zeigen, dass für MINT-Berufe auch Kreativität, Kommunikation und Teamarbeit wichtig sind. Und sie brauchen Erwachsene, die sie bestärken.»
* Leo löst acht Aufgaben mehr.
Umfrage: MINT-Nachwuchsbarometer
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Sie wollen mehr über das Thema MINT erfahren? Die Projekte von Susanne Metzger und ihrem Team fokussieren auf die Fachdidaktik(en) im Bereich MINT.
Mit dieser Online-Umfrage soll – im Auftrag der Akademien der Wissenschaften Schweiz und der SATW – das Interesse an MINT-Fächern, die Entscheidungsfindung für oder gegen MINT-Disziplinen im Ausbildungsweg sowie die Wahrnehmung von MINT in der Schweiz erhoben werden.
Die Resultate sollen eine Grundlage für eine gezielte MINT-Förderung bieten. Auch, um dem gegenwärtigen Fachkräftemangel im Bereich MINT entgegenzuwirken.
Dafür werden sowohl Schüler:innen der Sekundarstufen I und II als auch Studierende und Erwerbstätige verschiedener Disziplinen befragt.
Das Ziel ist, mindestens 6000 Personen in der Deutschschweiz und der Romandie (die Umfrage steht auf Deutsch und Französisch zur Verfügung) zu befragen, um so aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten.
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