Zum Inhalt springen

Schäm dich! Ein Plädoyer für die Scham

Dass wir uns schämen, hat durchaus seine Gründe. Scham sorgt dafür, dass unser soziales Miteinander gelingt. Und sie hilft uns, uns persönlich weiterzuentwickeln. Die Psychotherapeutin Maren Lammers spricht sich offen für Schamgefühle aus. Wir dürften uns ruhig häufiger mal schämen.

Maren Lammers

Psychotherapeutin und Autorin

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Neben ihrer Arbeit als Psychotherapeutin übernimmt Maren Lammers auch Lehraufträge an verschiedenen Instituten, darunter die Universität Zürich. Lammers hat kürzlich eine Vortragsreihe «Die Kraft schmerzhafter Gefühle» fertiggestellt und ist Autorin mehrerer Fachbücher. Darin geht sie Scham- und Schuldgefühlen auf den Grund.

SRF: Ein offener Hosenladen, ein lauter Furz im stillen Meetingraum. Für viele ein Grund rot zu werden. Warum eigentlich?

Maren Lammers: Mit dem roten Gesicht signalisieren wir, dass wir uns für die Situation schämen. Ein Zeichen dafür, dass wir die sozialen Normen verstanden haben. Gleichzeitig kann das Erröten ein prosoziales Verhalten des Gegenübers bewirken. So werden wir in dieser beschämenden Situation bestenfalls gut von unseren Mitmenschen aufgefangen.

Eine wohlwollende Reaktion des Gegenübers hilft also, uns weniger oder nicht mehr zu schämen?

Sie kann zumindest unterstützen. Scham hält sich allerdings hartnäckig. Während viele Gefühle nach 15 Minuten abklingen, sind es bei Schamgefühlen eine halbe bis zwei Stunden. Der Grund dafür liegt darin, dass Scham sehr eng mit unserer Identität verknüpft ist: Wer bin ich? Für wen halte ich mich? Und wie wäre ich gerne? Hinter dem Gefühl stecken Kernthemen wie die eigenen Kompetenzen, Intimitäten und Grenzen.

Ein tief verankertes Gefühl.

Genau. Scham geht auf die Urangst zurück, nicht dazuzugehören. Wir gehen davon aus, dass sich Menschen bereits in der Steinzeit schämten. Wer sich völlig daneben benimmt, wird aus der Gemeinschaft ausgestossen. Die Konsequenz für die verstossene Person ist fatal: Ihr Überleben ist nicht mehr gesichert.

Scham trägt dazu bei, sich weiterzuentwickeln. Wir dürfen also ruhig auch mal Werbung für die Scham machen.

In diesem Sinne hilft uns das Schamerleben, uns in der Gesellschaft zu integrieren. Allerdings über den Umweg, es möglichst vermeiden zu wollen, in beschämende Situationen zu geraten.

Aber wie helfen uns Schamgefühle heute konkret?

Ich habe meine Diplomarbeit über Schamgefühle alkoholabhängiger Frauen geschrieben. Hier tragen sie in konstruktiver Form dazu bei, einen Rückfall vorzubeugen. Oder nehmen wir Kleinkinder: Beobachten diese, dass die anderen keine Windel mehr tragen, spornt es sie an, die eigene Windel loszuwerden. So trägt Scham im jeweiligen Umfeld stets dazu bei, sich weiterzuentwickeln. Wir dürfen also ruhig auch mal Werbung für die Scham machen.

Zu viel Scham solls aber auch nicht sein. Oder?

Wenn die Scham zur ständigen Begleiterin wird, sehr oft und intensiv auftritt, ist das ein Warnzeichen. Eine solch zustandsartige Form sollte das Gefühl sicherlich nicht annehmen. Das kann nämlich dazu führen, dass sich Betroffene sozial isolieren und in die Einsamkeit flüchten.

Der Umgang mit Scham unterscheidet sich aber auch von Kultur zu Kultur.

Die Scham an sich bleibt aber ein wichtiges und normales Gefühl. Auf den Umgang damit kommt es an.

Woran erkenne ich, dass mein eigener Umgang gesund ist?

Schamgefühle sollten nie zum langanhaltenden Zustand werden, sondern immer wieder abklingen. Ein weiteres gutes Indiz ist, dass man die Scham in verschiedenen Intensitäten erlebt. Soll heissen, dass man sich für eine Peinlichkeit weniger stark schämt als für einen grossen Bock, den man geschossen hat. Der Umgang mit Scham unterscheidet sich aber auch von Kultur zu Kultur.

Inwiefern?

In sogenannten Schamkulturen – dazu gehören viele asiatische Länder – wird bereits Kindern gelehrt, Schamgefühle zu zeigen. Das widerspiegelt sich in der Gesellschaft. Geht in diesen Kulturen eine Firma insolvent, wird von der Leitung erwartet, dass sie ihre Scham offen zeigt. Nur so macht sie ihre Reue spürbar. In der Schweiz hingegen kriegt man eine Abfindung.

Das Gespräch führte Miriam Kull.

SRF 1, Puls, 09.09.2024, 21:05 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel