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Tiktok-Trend Girl Math Girl Math: Nur witzige Videos – oder die Vorstufe zur Kaufsucht?

«Bargeld zählt nicht!»: Auf Tiktok rechtfertigen Frauen ihre Käufe mit skurrilen Ausreden. Alles nur Spass? Zwei Experten ordnen ein.

«Wenn etwas unter fünf Dollar kostet, ist es eigentlich gratis», sagt Samantha James mit verschwörerischem Blick in die Kamera. Dann setzt die junge US-Amerikanerin erneut an: «Wenn man ein Zara-Teil für 50 Dollar zurückbringt, und etwas Neues für 100 Dollar findet, kostet es quasi nur 50. Girl Math.»

Der Hashtag Girl Math (Mädchen-Mathe) ist einer der Social-Media-Hypes der vergangenen Monate. Knapp 1.7 Billionen (!) Mal wurde er aufgerufen, zahlreiche Videos gingen viral. Auch die Kommentarspalte unter Samanthas Video zeigt: An kreativen Rechtfertigungen für Käufe fehlt es auf der Plattform nicht.

So erzählt eine andere Userin davon, dass Bargeld kein echtes Geld ist. «Somit ist alles, was bar bezahlt wird, kostenlos.»

Der Coiffeurbesuch wird zur «Investition in die Zukunft», weil dadurch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass man damit beim Bewerbungsgespräch eine Runde weiterkommt und den (gut bezahlten) Job absahnt. Und wenn man an einem Tag kein Geld ausgegeben hat, verdopple sich das Budget für den nächsten Tag, so eine Frau augenzwinkernd.

Die Videos sind überspitzt formuliert, viele werden von den Macherinnen als #Satire deklariert.

Doch nicht alle finden «Girl Math» witzig. Der Trend befeuere das jahrhundertealte Klischee, dass Frauen schlecht in Mathematik seien – und nicht gut mit Geld umgehen könnten, kritisieren die einen. Die Videos triggern gefährliches, unkontrolliertes Kaufen, so die anderen.

Aber: Wie gefährlich ist der Trend wirklich? Können die Videos zum Türöffner für eine Kaufsucht werden? «Der Hashtag birgt durchaus das Risiko, unkontrollierte Kaufentscheidungen zu normalisieren und damit potenziell zu einer Kaufsucht beizutragen», so der Sozial- und Wirtschaftspsychologe Christian Fichter von der Zürcher Kalaidos Fachhochschule.

Durch die humorvolle Aufbereitung könne die ernsthafte Auseinandersetzung mit den finanziellen Konsequenzen in den Hintergrund rücken.

Selbstrechtfertigungen aus Sicht der Psychologie

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Wir alle haben uns wohl schon mal mit Rechtfertigungen vor uns selbst herumgeschlagen: Warum machen wir das? Funktionieren diese Rechtfertigungen vor uns selbst wirklich? Das sagen Experten dazu.

Mentale Kontoführung

«Am beliebtesten ist vermutlich die mentale Kontoführung. Da weisen wir unsere Ausgaben bestimmten gedanklichen Konten zu, und kriegen es so oft genug hin, dass uns die Ausgaben eben doch vernünftig erscheinen.

So deklariere ich einen Theaterbesuch am Montag zu einer Investition in meine ‹Bildung›, damit der Kinobesuch am Freitag von einem anderen gedanklichen Konto abgebucht werden kann, dem ‹Vergnügen›-Konto. Wenn ich Kleider kaufe und mir on top noch die Laufschuhe leiste, geht das eine vom Konto ‹Wintermode› weg und das andere vom mentalen ‹Sport›-Konto», so der Konsumpsychologe Georg Welser von der deutschen Hochschule Harz.

Kognitive Dissonanztheorie

«Selbstrechtfertigungen entstehen aus dem Bedürfnis, unsere Handlungen und Entscheidungen mit unserem Selbstbild und Wertvorstellungen in Einklang zu bringen. In der Psychologie wird das oft im Kontext der kognitiven Dissonanztheorie diskutiert.

Menschen streben nach innerer Konsistenz ihrer Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Wenn es zu Diskrepanzen kommt, zum Beispiel zwischen dem Wunsch nach Sparsamkeit und dem Impuls, Geld auszugeben, entstehen Selbstrechtfertigungen als eine Art mentaler Balanceakt», erklärt der Sozial- und Wirtschaftspsychologe Christian Fichter.

Eine Kaufsucht sei allerdings eine ernsthafte psychologische Erkrankung, die durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst werde, so Christian Fichter weiter. Girlmath alleine kann also nicht zum direkten Auslöser werden.

Kaufsucht-Zahlen in der Schweiz

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  • Laut einer Umfrage im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit BAG leiden fünf Prozent der Schweizerinnen und Schweizer an einer pathologischen Kaufsucht. 
  • Rund 20 Prozent der Bevölkerung wiesen 2019 ein risikoreiches Kaufverhalten auf – eine Vorstufe der pathologischen Kaufsucht.
  • Alter der von pathologischer Kaufsucht Betroffenen: 18-39 Jahre: 46.9 Prozent; 40-64 Jahre: 32.7 Prozent; 65+ Jahre: 20.4 Prozent ( Quelle: Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung 2020)

Und wie viel Sexismus steckt hinter dem Hashtag? «Zunächst wissen wir aus der Forschung, dass diese Rechnungen keineswegs nur bei Frauen verbreitet sind. Doch der Hashtag suggeriert, dass Frauen irrational einkaufen oder irrational mit Zahlen umgehen. Das finde ich durchaus sexistisch», so Konsumpsychologe Georg Walser.

Andererseits helfe es nicht, vorliegende Geschlechtereffekte wegzuleugnen, so der Experte. «Frauen und Mädchen sind zwar nicht schlechter im Rechnen – allerdings neigen sie häufiger zu stimmungsregulierenden Einkäufen und sind häufiger von Kaufsucht betroffen als Männer», so Walser.

Anzeichen einer Kaufsucht

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Es gibt viele Faktoren, die zu einer Kaufsucht führen können. Wenn die Gedanken ans Shoppen immer mehr werden, sprich, Betroffene sich fast nur noch mit Dingen, die sie kaufen wollen, beschäftigen, können das erste Anzeichen sein.

Dazu gehört auch das Stöbern, Vergleichen und Feilschen – oder bei Langeweile auf der Couch Dinge in den Online-Warenkorb packen. Werden gekaufte Sachen vor dem Partner oder der Partnerin versteckt, löst das Stress aus. Ein gefährliches Kaufverhalten kann sogar so weit gehen, dass etwa der Job oder die Kinderbetreuung vernachlässigt werden. Oft verschulden sich Betroffene. Die Kaufsucht ist eine Verhaltenssucht, genauso wie Spiel- oder Onlinesucht.

Männer und Frauen gleichermassen betroffen

Während die Bezeichnung «Girlmath» den Fokus auf junge Frauen setzt, ist das Phänomen der Selbstrechtfertigung nicht auf ein Geschlecht beschränkt. Männer und Frauen neigen beide dazu», bestätigt Fichter. Ob #Boymath genauso oft geklickt geworden wäre?

So oder so: #Girlmath suggeriert, dass Frauen unverantwortlich mit Geld umgehen und sich in die Tasche lügen, um Kaufentscheidungen zu rechtfertigen, die sie vielleicht besser nicht hätten fällen sollen. Gefährlich ist das wohl vor allem für die Gender-Stereotypen, die damit auch im Jahr 2023 zementiert werden.

SRF1, Puls, 20.11.2023, 21:05 Uhr

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