«Wenn etwas unter fünf Dollar kostet, ist es eigentlich gratis», sagt Samantha James mit verschwörerischem Blick in die Kamera. Dann setzt die junge US-Amerikanerin erneut an: «Wenn man ein Zara-Teil für 50 Dollar zurückbringt, und etwas Neues für 100 Dollar findet, kostet es quasi nur 50. Girl Math.»
Der Hashtag Girl Math (Mädchen-Mathe) ist einer der Social-Media-Hypes der vergangenen Monate. Knapp 1.7 Billionen (!) Mal wurde er aufgerufen, zahlreiche Videos gingen viral. Auch die Kommentarspalte unter Samanthas Video zeigt: An kreativen Rechtfertigungen für Käufe fehlt es auf der Plattform nicht.
So erzählt eine andere Userin davon, dass Bargeld kein echtes Geld ist. «Somit ist alles, was bar bezahlt wird, kostenlos.»
Der Coiffeurbesuch wird zur «Investition in die Zukunft», weil dadurch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass man damit beim Bewerbungsgespräch eine Runde weiterkommt und den (gut bezahlten) Job absahnt. Und wenn man an einem Tag kein Geld ausgegeben hat, verdopple sich das Budget für den nächsten Tag, so eine Frau augenzwinkernd.
Die Videos sind überspitzt formuliert, viele werden von den Macherinnen als #Satire deklariert.
Doch nicht alle finden «Girl Math» witzig. Der Trend befeuere das jahrhundertealte Klischee, dass Frauen schlecht in Mathematik seien – und nicht gut mit Geld umgehen könnten, kritisieren die einen. Die Videos triggern gefährliches, unkontrolliertes Kaufen, so die anderen.
Aber: Wie gefährlich ist der Trend wirklich? Können die Videos zum Türöffner für eine Kaufsucht werden? «Der Hashtag birgt durchaus das Risiko, unkontrollierte Kaufentscheidungen zu normalisieren und damit potenziell zu einer Kaufsucht beizutragen», so der Sozial- und Wirtschaftspsychologe Christian Fichter von der Zürcher Kalaidos Fachhochschule.
Durch die humorvolle Aufbereitung könne die ernsthafte Auseinandersetzung mit den finanziellen Konsequenzen in den Hintergrund rücken.
Eine Kaufsucht sei allerdings eine ernsthafte psychologische Erkrankung, die durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst werde, so Christian Fichter weiter. Girlmath alleine kann also nicht zum direkten Auslöser werden.
Und wie viel Sexismus steckt hinter dem Hashtag? «Zunächst wissen wir aus der Forschung, dass diese Rechnungen keineswegs nur bei Frauen verbreitet sind. Doch der Hashtag suggeriert, dass Frauen irrational einkaufen oder irrational mit Zahlen umgehen. Das finde ich durchaus sexistisch», so Konsumpsychologe Georg Walser.
Andererseits helfe es nicht, vorliegende Geschlechtereffekte wegzuleugnen, so der Experte. «Frauen und Mädchen sind zwar nicht schlechter im Rechnen – allerdings neigen sie häufiger zu stimmungsregulierenden Einkäufen und sind häufiger von Kaufsucht betroffen als Männer», so Walser.
Männer und Frauen gleichermassen betroffen
Während die Bezeichnung «Girlmath» den Fokus auf junge Frauen setzt, ist das Phänomen der Selbstrechtfertigung nicht auf ein Geschlecht beschränkt. Männer und Frauen neigen beide dazu», bestätigt Fichter. Ob #Boymath genauso oft geklickt geworden wäre?
So oder so: #Girlmath suggeriert, dass Frauen unverantwortlich mit Geld umgehen und sich in die Tasche lügen, um Kaufentscheidungen zu rechtfertigen, die sie vielleicht besser nicht hätten fällen sollen. Gefährlich ist das wohl vor allem für die Gender-Stereotypen, die damit auch im Jahr 2023 zementiert werden.