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Flechten – viel mehr als nur lästige Flecken
Aus Kultur-Aktualität vom 15.08.2023. Bild: Christoph Scheidegger
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Naturführer über «Mischwesen» Die faszinierende Lebensgemeinschaft der Flechten

In der Schweiz gibt es über 2000 Flechtenarten. Der Biologe Christoph Scheidegger kennt sie alle. Nun hat er mit zwei Co-Autorinnen einen umfassenden Naturführer über diese «Mischwesen» geschrieben.

Für viele sind sie lästige Flecken, die sich zum Beispiel an der Betonmauer des Hauses oder auf einer schicken Holzgartenbank angesiedelt haben – die man mit dem Hochdruckreiniger entfernen möchte. Doch hinter diesen Flecken verbergen sich faszinierende Organismen: Flechten.

«Flechten sind Überlebenskünstler, Teamplayer und wichtige Akteure für die Biodiversität», sagt der Naturschutzbiologe Christoph Scheidegger, der mit zwei Co-Autorinnen ein neues Buch über Flechten der Schweiz geschrieben hat.

Buchhinweis

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Christoph Scheidegger, Christine Keller, Silvia Stofer: Flechten der Schweiz.

Vielfalt, Biologie, Naturschutz. Mit 52 Exkursionen, Verbreitungskarten und Fotos. Vorwort von Kim de l’Horizon. 656 Seiten, Preis: 49 Franken.

Erschienen im Haupt Verlag.

Termin im «Langholz» im aargauischen Rothrist. Der Wald hat etwas Zauberhaftes. Hier dominieren keine Buchen wie üblich im Mittelland, sondern Weisstannen, Eichen und Bergahorn. Die Luft ist ziemlich feucht.

Christoph Scheidegger bahnt sich einen Weg durchs Gestrüpp. Vor einem grossen Baum bleibt er stehen. Es ist eine Eiche, moosbewachsen auf der einen Seite, auf der anderen ganz anders: «Man sieht es an der grün-grauen Färbung: Diese Stammseite ist zu 80 Prozent von Flechten bewachsen.»

Auf dem Bild ist Christoph Scheidegger zu sehen.
Legende: Christoph Scheidegger hat bis zu seiner Pensionierung kürzlich als Naturschutzbiologe und Biodiversitätsspezialist bei der WSL, der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft gearbeitet. SRF

Diese – regenabgewandte – Seite bleibe meistens trocken, erklärt Christoph Scheidegger. Für Flechten ist dies ideal: «Flechten sind fantastische Spezialisten, die die Feuchtigkeit, die sie zum Leben brauchen, direkt aus der Atmosphäre aufnehmen – sie brauchen gar nie flüssiges Wasser.»

Überlebensstrategie «Wechselfeuchte»

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Flechten haben im Lauf ihrer Entwicklungsgeschichte ökologische Strategien entwickelt, um an extremen Standorten überleben zu können; sei dies auf Berggipfeln, in trocken-heissen Wüstengebieten oder auch in der Kälte des hohen Nordens. Eine dieser Strategien ist die sogenannte Wechselfeuchte:

Während Blütenpflanzen mehr oder weniger den gleichen Wassergehalt haben, verfolgen Flechten eine total andere Strategie: Sie nehmen Wasser auf, wenn dieses vorhanden ist, dann sind sie auch physiologisch aktiv. Der Algenpartner betreibt Fotosynthese, der Pilzpartner atmet – er nimmt Sauerstoff aus der Luft auf und gibt CO₂ ab.

Wenn die Luftfeuchtigkeit sehr niedrig ist, trocknet die Flechte aus. «Sie hat keinen Verdunstungsschutz», erklärt Christoph Scheidegger. Mit dem Austrocknen stellt die Flechte auch ihre physiologischen Aktivitäten ein. «Dieser Prozess ist aber reversibel – die Flechte leidet nicht unter diesem Austrocknen», betont der Biologe. Das heisst: Wenn die Luftfeuchtigkeit steigt, kann die Flechte wieder Wasser aufnehmen und «erwacht» innert Sekunden zum Leben. Der Algenpartner betreibt Fotosynthese, der Pilzpartner atmet und produziert Energie.

Christoph Scheidegger nimmt seine Lupe zur Hand und schaut sich eine der grün-grauen Strukturen genauer an. Welche Flechte denn hier wachse, will ich wissen. Der Biologe lacht: «Auf einer einzigen Eiche findet man problemlos 60 und mehr Arten», antwortet er. Dabei gebe es die vielfältigsten Formen: Manche würden ausschliesslich in den Borkenrissen wachsen, andere kämen nur in den Ästen der Krone vor.

Weltweit existieren rund 25'000 Flechtenarten – offiziell. Scheidegger vermutet, dass es locker doppelt so viele sind. «Zahlen sind halt Zahlen», sagt er, «ich halte wenig von Zahlen, denn die sind wirklich im Fluss».

Flechten sind Mischwesen

Viel faszinierender findet der Biologe die Natur von Flechten: Es sind Mischwesen. Eine Flechte ist eine symbiotische Lebensgemeinschaft zwischen Pilz und Alge. «Die Oberrinde einer Blattflechte zum Beispiel wird vom Pilz gebildet, und diese kann Feuchtigkeit – Wasser, Regen – und die darin gelösten mineralischen Nährstoffe aufnehmen.»

Im Innern des Pilzes, im sogenannten Flechtenlager, wohnen – wie auf Wäscheleinen aufgehängt – die Algen. An sie gibt der Pilz Wasser und mineralische Nährstoffe weiter.

So versorgt, können die Algen Fotosynthese betreiben. «Im Gegenzug produziert die Alge zuckerähnliche Substanzen, die sie teilweise an den Pilz abgibt.» Dadurch bekommt die Flechte Energie zum Wachsen.

Ein Geben und Nehmen

Das Zusammenleben von Pilz und Alge ist ein Geben und Nehmen, eine unablässige, gegenseitige Fürsorge. So überleben und wachsen Flechten auch an extrem kalten oder heissen Orten, wo Blütenpflanzen keine Chance haben. Gleichsam als «Haut der Erde» sorgen Flechten für stabile Bodenverhältnisse an solchen Extremstandorten, und sie bieten vielen Tieren Nahrung – etwa den Rentieren im hohen Norden.

Was antwortet Christoph jenen, die Flechten weghaben möchten? «Solchen Leuten kann ich nur empfehlen: Schaut euch eine Flechte von Nahem an; nehmt eine Lupe und vertieft euch in die Formen und Farben.» Dem Betrachter werde sich eine neue Welt öffnen.

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Archiv: Die Flechten werden digital
aus Regionaljournal Graubünden vom 31.07.2023. Bild: SRF/Wera Aegerter
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Radio SRF 2, Kultur Aktualität, 15.8.2023, 17:10 Uhr

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