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Die Seeschwalben und der Virustod
Aus Kopf voran vom 05.05.2023. Bild: Jannis Dimmlich
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Vogelgrippe Er musste zusehen, wie tausende Wildvögel den Virustod sterben

Nach seinem Studium verwirklicht Jannis Dimmlich seinen Traum und wird für eine Saison Vogelwart auf einer Wattenmeer-Insel. Doch dann kommt die Vogelgrippe.

Die Insel war ein einziger Friedhof, nur waren die Toten nicht begraben und trugen ein Gefieder. Jannis Dimmlich war seit vier Monaten auf Norderoog, als er am Ende der Brutzeit einen schweren Rundgang machte: Er suchte systematisch die ganze Insel ab und zählte die toten Brandseeschwalben. «Es waren fast 3000», erzählt er.

Dimmlich arbeitet im Naturschutz in Schleswig-Holstein. Vor einem Jahr will sich der studierte Agrarökologe vor dem Berufseinstieg eine Auszeit nehmen. So meldet sich der 28-Jährige beim Verein Jordsand für einen Freiwilligeneinsatz in der Nordsee, als Vogelwart auf der Insel Norderoog.

Norderoog ist eine «Hallig» – eine winzige, regelmässige überflutete Insel im Nordfriesischen Wattenmeer. Seit über 100 Jahren lassen sich hier jedes Jahr tausende Brandseeschwalben nieder: grosse, beeindruckende Seevögel mit einem schwarzen, zerzausten Federnschopf und einer Flügelspannweite bis zu einem Meter. Norderoog ist eine der grössten Koloniestandorte des stark gefährdeten Vogels.

Wichtiges Brutgebiet für Seevögel

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Norderoog ist die westlichste aller Halligen im Nordfriesischen Wattenmeer. Sie liegt 25 Kilometer vor der Festlandküste. Die Hallig liegt in der «Schutzzone I» des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Als wichtiges Brutgebiet für Seevögel darf sie nur im Rahmen geführter Wattwanderungen jeweils ab Mitte Juli besucht werden.

Seit 1909 ist Norderoog im Privatbesitz des Vereins Jordsand. Bis heute ist sie die einzige private Nordseeinsel, die ausschliesslich dem Naturschutz dient, hier insbesondere dem Vogelschutz, und unbewohnt blieb.

«Ende März 2022 kam ich auf Norderoog an», erzählt Dimmlich – als Vogelwart war er der einzige Bewohner der Insel. Die Bedingungen für die Brandseeschwalben waren vorerst gut. Alle hätten sich gefreut, als die ersten Jungvögel schlüpften. Doch dann kamen beunruhigende Meldungen von anderen Brutplätzen entlang der Ost- und Nordseeküste: Fälle von Vogelgrippe. Und dann kam das Virus auch nach Norderoog.

Ende Mai bekam Dimmlich wie vorgesehen Besuch von Vertretern des Vereins Jordsand, dem die Hallig seit 1909 gehört. Den Wissenschaftlern fiel auf, dass es mehr tote Vögel gab als in anderen Jahren. «Wir schickten ein paar Kadaver ins Labor ein, um sie testen zu lassen.» Sie waren positiv auf H5N1 – das Vogelgrippevirus.

Die Seuche verbreitete sich rasch. «Den ganzen Juni und Juli über habe ich regelmässig Kadaver gefunden», erinnert sich der ehemalige Vogelwart. Vor allem den Nachwuchs habe es getroffen: «Die Jungvögel starben entweder direkt an der Vogelgrippe, oder ihre Eltern starben, und die Jungen wurden nicht mehr ausreichend gefüttert und verendeten deswegen.»

Wie Brandseeschwalben brüten

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Brandseeschwalben sind Bodenbrüter. Auf einem Quadratmeter sitzen drei, vier Brutpaare dicht beieinander. Als grosser Pulk können sie sich so gegen Raubvögel wie zum Beispiel Wanderfalken verteidigen. Eine andere Gefahr ist das Wasser: Auch während der Brutzeit kann es passieren, dass die Hallig von Seewasser überflutet wird und die Eier wegschwimmen.

Nach der Brutzeit kam der eingangs beschriebene Tag, an dem Dimmlich und eine Kollegin Bilanz zogen über das Vogelsterben. Sie zählten 650 Altvögel und über 2000 Jungvögel.  «Das war nicht leicht», sagt er rückblickend. «Wenn man sich wegen des Interesses an Ornithologie dafür entscheidet, an so einen Ort zu gehen, und begeistert ist von diesem Ökosystem, von der Vielzahl an Vögeln, und dann passiert so etwas …» Das sei schwer auszuhalten.

Dazu kam die Angst vor einer Ansteckung mit H5N1. Er arbeitete zwar mit einer Schutzausrüstung, Handschuhen und Maske, aber: «Man setzt sich ein Stück weit der Gefahr aus.» Trotzdem sei es für ihn nie infrage gekommen, vorzeitig nach Hause zurückzukehren. Er blieb wie vorgesehen bis Oktober.

Wie denkt er heute über sein Insel-Abenteuer? «Ich hab’s nicht bereut.» Das Sterben der Brandseeschwalben sei zwar keine schöne Erinnerung, «aber aus naturwissenschaftlicher Sicht – ganz neutral betrachtet – war es auch spannend.» Weil der Tod zur Natur gehöre.

Vor einigen Wochen hat Dimmlich seine Nachfolgerin auf Norderoog begleitet – jene Kollegin, die mit ihm zusammen im Vorjahr die toten Vögel zählte. Noch seien die Meldungen nur positiv: «Es sind wieder Brandseeschwalben dort, von Tag zu Tag werden es mehr.» Nun bleibe abzuwarten, ob die Vogelgrippe wieder um sich greife oder ob’s dieses Jahr entspannter werde. Er hoffe nur das Beste.

Wissenschaftsmagazin, 6.5.2023, 12:55 Uhr

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