Alleinsein ist negativ besetzt. Wer allein ist, ist unglücklich, so lautet das Vorurteil. Aber machen soziale Verpflichtungen, Erfolg in einem anspruchsvollen Job, eine möglichst langjährige Partnerschaft und Familie glücklich? «Diese Vorstellung trügt», sagt Sarah Diehl.
«Wenn ich allein bin, ist die ganze Welt bei mir», schreibt die Kulturwissenschaftlerin und Autorin in ihrem Buch «Die Freiheit, allein zu sein», die sie als «Ermutigung» verstanden haben will. «Dieser Satz gibt eine Vision wieder, was Alleinsein für eine Ressource sein kann», sagt die 45-Jährige.
Wer allein sei, habe Raum und Zeit, die Welt sinnlich und inhaltlich wahrzunehmen. «Dabei werde ich von keinem anderen Menschen beeinflusst.»
Die feinen Unterschiede
Einsamkeit habe eine positive Tradition, sagt Sarah Diehl. «Vor etwa 200 Jahren habe Einsamkeit als philosophisches und religiöses Ideal gegolten, um der Welt unverstellt zu begegnen.» Mit der Welt oder auch mit dem Göttlichen verbunden zu sein, sei nur in Einsamkeit möglich gewesen.
Während der Begriff «Alleinsein» im heutigen Sprachgebrauch meist positiv benutzt wird, definieren viele «Einsamkeit» als negativ, als krankmachenden Zustand. Das Alleinsein wählt man zudem oft bewusst. Einsam hingegen ist man vorwiegend unfreiwillig, der Einsamkeit ist man passiv ausgesetzt.
Diese Betrachtungsweise greift für Sarah Diehl zu kurz: «Einsamkeit einzig als soziale Katastrophe zu betrachten, ist einseitig.» Das sei eine Fehlannahme. Auch die nicht selbst gewählte Einsamkeit könne aktiv gestaltet werden.
Sie sei in ihrer Jugend sehr einsam gewesen, sagt Diehl. «Aber auch wenn ich darunter gelitten habe, habe ich die Einsamkeit als einen positiven Raum wahrgenommen. In ihm konnte ich mich frei machen von Gruppenzwängen.» So sei sie zu einem autonomen Geist geworden, der mit sich in Einklang sei.
Wirkungen einer Wunderdroge
Diehl schreibt in ihrem essayistisch geprägten Buch: «Ich weiss, dass Alleinsein wie eine bewusstseinserweiternde Droge wirken kann: Sie verstärkt den Ist-Zustand, man kann wahrnehmen, welche Schönheit einen umgibt, muss aber auch begreifen, in welchem Käfig man zumeist steckt.»
Doch ist das nicht etwas schönfärberisch? Alleinsein und Einsamkeit kennen viele, auch hässliche Formen. Wer weiss, dass der WG-Partner bald nach Hause kommt oder man sich zum Kaffee-Trinken verabredet hat, erlebt Alleinsein weniger bedrohlich, weil es ein vorübergehender und nicht permanenter Zustand ist.
Problemzone Kleinfamilie
Dass Einsamkeit krank machen und zerstörerisch sein kann, räumt auch Sarah Diehl ein. «In diesem Fall würde ich jedoch nicht von Einsamkeit, sondern von sozialer Isolation sprechen.»
Es sei wichtig, sich bewusst zu werden, wie soziale Isolation durch die Gesellschaft produziert werde. Einen Anteil daran habe das Konzept der Kleinfamilie. «Es fördert die soziale Isolation», sagt die Kulturwissenschaftlerin.
Ein Paradox: «Familie wird meist als der Ort betrachtet, wo man der Einsamkeit entkommen kann», sagt Diehl. «Viele Leute haben Angst vor Einsamkeit und denken, sie wollen eine Gemeinschaft herstellen. Oft wissen sie aber dann keine anderen Konzepte, ausser die Mutter-Vater-Kind Konstellation.» Und wenn später die Kinder ausgezogen seien, und der Partner weg oder gestorben sei, sitze man allein zu Hause.
Für ein neues Wir-Gefühl
Lösungen böten für Diehl grössere Verantwortungsgemeinschaften, wie sie früher bestanden hätten: Grossfamilien aus mehreren Generationen.
Möglich seien auch neue Formen des Zusammenlebens, mit Freundinnen und Freunden etwa. Eine Entwicklung, die laut Diehl bereits im Gange sei. Davon profitieren jedoch im besten Fall die kommenden Generationen. Der heutigen Alterseinsamkeit oder Altersisolation lässt sich damit nicht begegnen.
Alleinsein ist auch eine Genderfrage
Kommt noch ein Phänomen dazu: Alleinsein bei Männern wird im westeuropäischen Kulturkreis oft positiv assoziiert – in Werbung oder Spielfilmen etwa. Das Klischee des «einsamen Cowboys» oder «Lonely Wolf» umhüllt oft ein attraktives Geheimnis. Für Frauen, die allein sind, gibt es keine gleich gelagerten Begriffe. Ihnen haftet der Nimbus des Trostlosen an.
Auch das habe seine Wurzeln im gesellschaftlichen Gefüge. «Männlichkeit verbinden wir mit Autonomie und emotionaler Unabhängigkeit», erklärt Sarah Diehl, die Geschlechterforschung studiert hat. «Frauen hingegen sollen vor allem soziale Wesen sein, die für den sozialen Kitt der Gesellschaft zuständig sind.» Sie sollen für die Bedürfnisse anderer da sein, sich um andere kümmern: um die Kinder, den Ehemann, um Pflegebedürftige.
Die Frauen das Fürchten lehren
Für Sarah Diehl hat das System. «Frauen wird viel Angst gemacht vor Einsamkeit, weil sie dadurch in gewisser Weise an Wert verlieren, wenn sie allein sind. Weil sie in dieser Lesart weder von einem Mann gewollt, noch von einer Familie gebraucht werden.» Die Bilder der einsamen Frau wirkten wie ein Druckmittel, damit Frauen weiter die ganze Fürsorgearbeit leisteten.
Einsame, verängstigte Frauen auf der einen Seite und Männer, die ihr Alleinsein geniessen, auf der anderen? «Diese Bilder bilden nicht die Realität ab», sagt Diehl. «Studien der dänischen Regierung und eine Langzeitstudie der BBC belegen, dass Männer mehr unter Einsamkeit leiden als Frauen.»
Männer würden zwar von Kindesbeinen an in ihrer Autonomie gefördert. Umgekehrt erlernten sie weniger soziale Kompetenzen, wie man sich etwa um den Freundeskreis kümmere oder auch um sich selbst.
Es begann in der Aufklärung
Das Individuum sei eine Erfindung der westlichen Kultur, sagt Sarah Diehl. «Liest man die Schriften spiritueller Lehren aus dem asiatischen Raum, beispielsweise zu Taoismus oder Buddhismus, so stellt die Allverbundenheit eine Selbstverständlichkeit dar. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass das Gefühl der Isolation und Vereinzelung eine lustvolle Wahnvorstellung der westlichen Kultur sei», schreibt sie in ihrem Essay.
Das Individuum sei ein Kind der Aufklärung, und dort mit einer Idee von Männlichkeit verbunden, die rational und von einer Distanziertheit zu den Gefühlen geprägt sei. «Damit haben wir uns ein Bein gestellt, weil diese Distanziertheit zu der Welt, zu Gefühlen, zu anderen Menschen, zu einer Vereinzelung und letztlich zu Isolation geführt hat.»
Dass seit einiger Zeit Yoga und andere spirituelle Lehren boomen, sieht die Kulturwissenschaftlerin damit in Zusammenhang. Es sei eine Sehnsucht nach einer Lebensform, in der das Individuelle wieder in der Gemeinschaft aufgehe.
All das zeigt: Wie mit Alleinsein und Einsamkeit umgegangen wird, liegt letztlich an der eigenen Kreativität.